Mannschaftsgefechte können lange dauern. Die zurückliegenden Akteure binden sich schon mal die Schnürsenkel, lassen Klingen auswechseln oder strengen den Videobeweis an, um sich zu beruhigen, während die Trainer in ihrer Box wild gestikulieren oder still vor sich hin leiden. Aber auch am Gefechtsbeginn kann sich die Zeit dehnen, so wie soeben im Finale der Europameisterschaft der Säbelfechter in Düsseldorf: Die Anfänge dieses Gefechts reichten weit zurück, genau genommen bis zur WM vor zwei Jahren.
Da hatte Max Hartung, seit Langem der beste deutsche Säbler, eine seltene, bittere 4:18-Niederlage als Schlussmann gegen Frankreich kassiert. Und weil so ein Erlebnis oft eine längere Halbwertszeit in der Fechter-Psyche hat, kam dem deutschen Säbel-Bundestrainer Vilmos Szabo nun eine Idee. Es ging im Viertelfinale ja wieder gegen diese Franzosen, warum also nicht mal Hartung die große Verantwortung des Schlussfechters abnehmen? Warum diese nicht Benedikt Wagner übertragen?
Wagner, 29 und eben noch Student, ist im großen Sport ein Unbekannter, nun hat er das Team zum EM-Titel geführt. "Das hat er schon toll gemacht", sagt Szabo. Am Abend fand sich Wagner plötzlich im ZDF-Sportstudio wieder, zusammen mit Hartung, Matyas Szabo, dem Sohn des Trainers, Ersatzmann Björn Hübner-Fehrer und Szabo selbst. Sie alle hatten erst Frankreich, den Weltranglistenzweiten Italien und schließlich Ungarn besiegt und dem Publikum einen Spannungsbogen bis zum letzten Treffer geboten. Und mit den 64 Punkten, die ihnen nun in der Weltrangliste gutgeschrieben werden, rückt auch das letzte große Ziel des Teams deutlich näher: die Zulassung für Tokio 2020, wo es nach allen anderen Titeln endlich eine Olympiamedaille gewinnen will.
Auf Rückschläge folgte ein Neuaufbau, auf Rückstände im EM-Finale eine Aufholjagd
So richtig begonnen hatte dieses EM-Finale natürlich auf der großen Planche der Halle 8b in Düsseldorfs Messegelände, wo das deutsche Trio gleich mal 1:9 zurücklag. Ungarns Säbler sind erfahren, sie haben ein variantenreiches Repertoire, und sie sind cool. Die Attacken der aufgekratzten Deutschen konterten sie ungerührt, in der Halle wurde es still. Eine Mannschaft, die bald nach dem ganz großen Titel greifen will, muss aus solchen Situationen aber auch herausfinden. Und ähnlich, wie Entfesselungskünstler in einem Sack am Boden eines Sees mittels Hektik auch nicht weiterkommen, half den deutschen Säblern nur eines: Ruhe. Treffer für Treffer arbeiteten sie sich vor, bis Hartung als vorletzter Deutscher gegen Andras Szatmari wieder auf 40:34 vorgelegt hatte, und da war auch der Lärm auf den Rängen zurück.
Ähnlich hatte sich die gesamte Mannschaft von Vilmos Szabo auch schon über die vergangenen zehn Jahre entwickelt: Auf Rückschlag folgte Neuaufbau. Während die anderen Waffen im Deutschen Fechter-Bund innere Konkurrenzkämpfe austrugen und stagnierten, sammelte Szabo seine Säbler am Stützpunkt in Dormagen, entsprechend gut war die Trainingsqualität. Der erste Topfechter, Nikolas Limbach, gewann in Antalya 2009 WM-Bronze. Limbach und das Team waren Gold-Favorit bei den Olympischen Spielen in London, scheiterten aber. Bald verließ Limbach den Sport, und die Zeit von Hartung brach an, der ebenfalls Titel gewann, aber bei den Spielen 2016 scheiterte, wo das eigentlich starke Säbelteam fehlte, weil Männersäbeln wegen der Rotation gerade nicht im Programm war.
Nun folgt also der nächste Anlauf in Richtung Olympia. Schlagen sich die Säbler nach kurzer Pause und einem Intensivlehrgang ähnlich gut bei der WM im Juli in Budapest, steht die Tür weit offen. Vier Mannschaftsweltcups folgen danach, die in dieser Form wohl kein großes Problem darstellen für Szabos Team. Denn der EM-Titel am Samstag zeigte, dass dessen Varianten mittlerweile auch beachtlich sind.
40:34 also stand es, und nun erlebte Schlussfechter Wagner erstmals die ganze Last der Verantwortung. Aron Szilagyi, der zweimalige Olympiasieger stand ihm gegenüber und zeigte seinerseits, wie man sich mit dem Säbel entfesselt. Seine Klinge fand den Weg durch Wagners Deckung, er zog wieder gleich und brauchte nur noch drei Treffer zum Sieg.
Doch an diesem Nachmittag und auch schon während der Woche hatten Szabos Fechter bewiesen, dass sie einen Schritt weitergekommen sind, die Positionen wechseln können und noch besser als Gemeinschaft funktionieren. Wagner fing sich und erledigte auch den letzten Job als Schlussfechter in diesem langen Finale. Eine letzte Attacke setzte er, wobei er so minimal schneller war als Szilagyi, dass der Obmann ein besonders langes Videostudium brauchte. Die Zuschauer warteten, die Fechter zappelten, der Trainer litt, dann ging die Hand des Obmanns hoch, 45:43, Gold für Germany.