Süddeutsche Zeitung

Fecht-WM in Düsseldorf:Die Krise ist vertrieben

Lesezeit: 3 min

Die deutschen Florett-Fechter wecken mit ihrem Finaleinzug die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Von Volker Kreisl, Düsseldorf

Die Szene war schwer zu fassen. War das nur ein Tagtraum? Hatte Peter Joppich gerade tatsächlich den letzten Treffer gesetzt und sein Florettteam ins Finale der EM im eigenen Land befördert? Gegen Italien?

Joppich, 36, hatte wie üblich in den vergangenen 15 Jahren das deutsche Florettteam angeführt, jene Mannschaft, die bis in die Nullerjahre ihre große Zeit hatte und den Deutschen Fechter-Bund mit Medaillen versorgte, die in ihrer Entwicklung dann aber ins Stocken geriet. Olympiasieger Benjamin Kleibrink, mittlerweile auch schon 33, verschwand zwischendurch in einer Auszeit, Joppich hatte mit Blessuren zu kämpfen, Ersatz für diese Besten brachte der Verband nicht hervor. Den letzten EM-Titel holte das Team vor sechs Jahren. Aber dann ereignete sich dieses Halbfinalgefecht, mit dem vielleicht doch wieder eine Tür aufgeht in eine bessere Zukunft.

Es war ein Wettkampfverlauf, wie geschaffen als Erweckungserlebnis. Fast die ganze Palette des klassischen Klingen-Dramas war geboten, eine frühe Führung, Rückschläge, harte Arbeit, dann eine Verletzung, auf die eine Art Feuertaufe folgte, und ein gefühlt unendliches Finale, dem der Regisseur mit immer neuen Verzögerungen übertriebene Spannung verlieh. Der Regisseur war der Schiedsrichter.

Als die Zuschauer auf der Tribüne dann durchatmeten, waren Joppich, Kleibrink, André Sanita und Luis Klein ins Finale vorgerückt, das sie zwar klar gegen Frankreich verloren, was aber dem Optimismus nicht schadete. Silber mal wieder, auch noch vor heimischen Zuschauern, Amateurfechtern und Medien - das, sagte Sportdirektor Sven Ressel, werde haften bleiben, die Krise werde nicht zurückkommen: "Das war keine Eintagsfliege."

Dass die Mannschaft wieder mehr Substanz hat, liegt auch daran, dass neben den alten Medaillenbeschaffern eine weitere verlässliche Kraft im Team steht, Andre Sanita, 27, wurde 2016 EM-Dritter und 2015 EM-Zweiter mit der Mannschaft, was in der Tristesse der verpassten Olympia-Qualifikation freilich unterging. Sanita aber entwickelte sein Repertoire weiter, und seine Trefferserien waren für diesen Sieg über die in der Weltrangliste um neun Plätze besseren Italiener entscheidend. Mitte des Gefechts übergab er einen Acht-Punkte-Vorsprung an Kleibrink, der sich zunächst weiter absetzte, sich dann allerdings plötzlich an den linken Oberschenkel fasste.

Er arbeitet sich immer noch zurück in die Sportwelt, die er scheinbar schon verlassen hatte. 2017 war Kleibrink doch wieder da, ohne übertriebenen Ehrgeiz, aber wieder mit der alten Freude. Nun wirft ihn diese Zerrung zwar nicht entscheidend zurück, aber der aktuelle Wettkampf war für ihn vorbei. Kleibrink setzte sich auf seinen Stuhl und musste von da an wie alle anderen fürchten, dass der immer noch schöne 31:25-Vorsprung zusammenschrumpft. Sein Ersatz war Luis Klein, 20 Jahre alt und noch nie in einem großen Teamwettkampf. Nun hatte er es mit Giorgio Avola zu tun, dem Weltranglistenfünften. Aber Klein, rund 1,90 Meter groß, hat zwar auf den ersten Blick eine etwas zu raumgreifende Statur, schnell wurde jedoch klar, dass ihm diese nichts von der Beweglichkeit nimmt. Bis 45 Treffer geht es in den neun Teilgefechten des Teamwettbewerbs, bis 35 musste Klein nun kommen, möglichst ohne überholt zu werden. Doch er setzte schnell zwei Treffer und konterte abermals, nachdem ihn Avola dreimal getroffen hatte. 35:28 - der Wendepunkt.

Sanita zog auf 40:31 davon und Schlussfechter Joppich war gegen Daniele Garozzo bald bei 44:36. Ein Punkt fehlte noch also zur Finalteilnahme, ein kleiner Treffer.

In diesem Moment hätten die deutschen Florett-Strategen schon mal an die Beute denken können. Denn es gäbe nun ordentlich Ranglistenpunkte für Silber, sie stünden vor einem entscheidenden Sprung nach vorne, in dem Vorhaben, Olympia diesmal unbedingt zu erreichen. Denn dafür, dass man in den Setzlisten der Weltmeisterschaften im kommenden Monat in Budapest und bei den vier weiteren Weltcups den großen Teams lange aus dem Weg geht, wäre eine Basis geschaffen.

Aber Fecht-Strategen denken nicht an die Beute, ehe der letzte Treffer sitzt - schon aus Aberglaube, aber auch aus manchen verrückten Erfahrungen mit unerklärlichen Form-Einbrüchen. Und tatsächlich - teils aus Unachtsamkeit, teils wegen seltsamer Entscheidungen des Referees - stand es zwischen Joppich und Garozzo plötzlich 44:39. Dann folgte eine grob zehnminütige Phase von nicht gegebenen Simultantreffern, von Video-Beweisen und eines vermeintlichen Siegtreffers, den der Obmann aber wieder zurücknahm. Jetzt hieß es 44:40, und da wurde es langsam knapp.

Aber Joppich hatte doch schon zu viel erlebt in seiner Fechtlaufbahn mit vier Weltmeistertiteln. Als ein zusätzlicher Schiedsrichter gekommen war und sich zur Sicherheit zwischen die aufgebrachte deutsche Box und den Obmann postierte, da machte Joppich mit einem schnellen Angriff dem Drama endlich ein Ende - und die Tür auf, vielleicht in eine bessere Zukunft.

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Quelle:
SZ vom 22.06.2019
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