Wieder dieses Lampenfieber. Da kann eine Sportlerin noch so lange dabei sein, Höhen erlebt und Tiefen durchschritten haben, aber dann bricht die Nacht vor dem Finale herein, und der Körper will nicht schlafen. "Die Nacht war fürchterlich", berichtet Alexandra Ndolo, das Adrenalin hatte sie nicht einschlafen lassen.
Doch solche langen, wachen Stunden kennt Ndolo ja, sie vergehen irgendwann, und die Energie für die wichtigsten Gefechte bleibt. In Kairo gewann sie nun Silber, ihre erste WM-Medaille nach bereits zwei EM-Einzel-Plaketten, 2017 Silber und 2019 Bronze. Das Finale hatte sie also am Montag verloren, insgesamt jedoch viel mehr gewonnen. Denn Ndolo hat mit dieser Medaille nun abgeschlossen mit der langen, für eine Zweikampfsportlerin besonders tristen Pandemiephase: "Dass ich aus diesen Jahren raus bin, da bin ich stolz auf mich." Vor ihr liegen große Pläne, unbedingt will sie sich nächstes Jahr für Olympia in Paris 2024 qualifizieren. Und jetzt schon hatte sie in diesem verlorenen Goldgefecht von Kairo, das vielleicht an einen Tanz erinnerte, in dem beide Seiten im Rhythmus und Tempo mitgehen, "großen Spaß".
Als Vierjährige versuchte sie es mit der Leichtathletik, mit neun entdeckte sie den Fünfkampf
Es war der Höhepunkt in Ndolos bisheriger Laufbahn. Wobei man nicht genau definieren kann, wann alles angefangen hat, und auch nicht, wann es dereinst aufhören wird. Gewissenhafte, normale Athleten treten einem Verein bei, binden sich an einen Sport und hören mit Mitte 30 irgendwann auf. Ndolo ist jetzt 35 und denkt gar nicht dran, ein konkretes Ende zu planen. Sport treibt sie seit 31 Jahren, als Vierjährige versuchte sie es mit der Leichtathletik, mit neun Jahren entdeckte sie den Modernen Fünfkampf, aus dem sich nach zehn Jahren eine Lieblingsdisziplin schälte - das Degenfechten. Heute sagt sie: "Ich habe erst mit 21 angefangen, richtig zu fechten, eigentlich macht man so etwas nicht." Sie schon.
Eine alte Leistungssportlerin ist Ndolo also, aber eine noch junge Fechterin. Am Vortag, an dem sie sich für die Finalgefechte qualifiziert hatte, war sie nach einer zeitaufwendigen Dopingkontrolle und langen Wettkämpfen zehn Stunden in der Halle. Dabei hatte sie ein schweres Los erwischt. Im Achtelfinale traf sie auf die zweimalige olympische Silbergewinnerin und aktuelle Weltranglistenerste, die Südkoreanerin Choi In-Jeong. Im Halbfinale bezwang sie die zweimalige Weltmeisterin Rossella Fiamingo. Gegen die hatte Ndolo bei der Europameisterschaft einen Monat zuvor noch verloren, diesmal aber trat sie entschiedener auf die Planche.
Irgendwie musste also ihr ehemaliger Degen-Bundestrainer Manfred Kaspar damals vor 15 Jahren Recht gehabt haben, mit seiner Prognose über Ndolo. "Kaspar hat wohl irgendwas gesehen", erinnert sich Ndolo, irgendein Talent. Ndolo selber trieb wohl eher der Ehrgeiz, denn sie war noch voll und ganz damit beschäftigt, umzusteigen vom kleinen Fünfkampf-Fechten auf den klassischen Sport. Im großen Fechten geht es beim Zählen bis 15, im Fünfkampf nur bis eins, somit immer ums Ganze, um alles oder nichts, was Ndolo an diesem Montag dann besonders viel Spaß bereitete im Finale von Kairo.
In der Not bastelte sie sich die Trainingspuppe Csobo2, benannt nach dem Trainer
Es ging gegen die Dritte aus dem starken südkoreanischen Team, die Weltranglistenzweite Se-ra Song. "Beide sind wir offensive Fechterinnen", sagt Ndolo. Beide sind aber auch geschickt im Ausweichen und Parieren. Es ging also zur Sache, Attacke folgte auf Attacke, auch Ndolo riss die Initiative an sich, wie sie es vielleicht auch im echten Leben hält. Als sie vor zwei Jahren in der Pandemie auf sich allein gestellt war und jeden Moment damit rechnete, dass sie wieder ins Training einsteigen müsste, da wurde sie wie viele andere Sportler kreativ. Sie bastelte eine Puppe, nannte sie nach dem aktuellen Bundestrainer Csobo2 und übte damit in der Wohnung die präzisen Degenstöße nach oben und nach unten, auf Oberkörper, Arme, Kopf, Beine, Füße.
Alle diese Erfahrungen haben sie gestärkt, und nun, als es in Kairo sogar um eine Goldmedaille ging, da wirkte der Druck, den die eine der anderen machte, immer stärker, jedenfalls plagte Ndolo kein Gedanke mehr an die durchwachte Nacht. "Den Tag habe ich genossen", sagt sie, und: "Wenn ich mal auf der großen Finalbühne stehe, dann habe ich keine Angst mehr zu verlieren."
Die Uhr lief schon fast ab, Ndolo führte mit zwei Punkten, aber weil es hier ausschließlich um Angriff ging, hatte ihre Gegnerin noch einmal zwei wagemutige Treffer gesetzt. 10:10 stand es nun, es ging in die Verlängerung, der letzte Treffer würde entscheiden, was beide risikofreudig machte. Ndolo sprang instinktiv nach vorne, Song verteidigte sich offensiv, Ndolo verfehlte, Song traf und gewann, was der Deutschen jedoch nach dieser langen Zeit des Wartens auf eine WM-Medaille und auf das Erblühen ihrer Form nichts mehr ausmachte.