Süddeutsche Zeitung

FC St. Pauli:Alle Formeln im Kopf

Trainer Ewald Lienen stattet seinem ehemaligen Klub 1860 München einen Besuch ab.

Von Jörg Marwedel

Manchmal gerät der Fußballlehrer Ewald Lienen noch immer ins Schwärmen, wenn er an seinen Arbeitgeber der Saison 2009/2010 denkt. 1860 München habe ein "riesiges Potenzial", sagt er gerne. Die Fanunterstützung sei die eines Topvereins, das Nachwuchsleistungszentrum eines der besten im Lande. Manchmal wird er aber auch richtig böse, wenn er an die "Löwen" denkt. Zum Beispiel nach dem 2:2 seines jetzigen Klubs FC St. Pauli beim Hinspiel beider Vereine im September am Millerntor. Da lederte er, gefrustet von zwei verlorenen Punkten, gegen das 1860-Modell mit dem Investor Hasan Ismaik. Das sei "schlimmer als Leipzig", wenn man so am Tropf eines Geldgebers hänge. Mit "kontinuierlicher Aufbauarbeit" habe das jedenfalls nichts zu tun, giftete Lienen, der die Auswüchse des (Fußball)-Kapitalismus gerne mal rügt.

Solche Fundamentalkritik hat er sich vor dem Rückspiel am Samstag (13 Uhr) natürlich verkniffen. "Das passt jetzt nicht", sagte er am Donnerstag. Er möchte das Duell nicht zum "Klassenkampf" ausrufen, obwohl es für beide Klubs um den Verbleib in der zweiten Liga geht. Die Münchner liegen nur noch vier Zähler vor den erstmals seit dem siebten Spieltag wieder auf Rettungsplatz 15 gekletterten Hamburgern. Doch der Unterschied zwischen St. Pauli und 1860 ist greifbar. Nicht nur wegen des fremden jordanischen Geldes. Auch beim Umgang mit Krisen trennen die Klubs Welten. Seit Dezember 2014, als Lienen als "Retter" des damaligen Tabellenletzten nach Hamburg kam, haben die Löwen bereits fünf verschiedene Cheftrainer beschäftigt, die zweimal eingesprungenen Interimslösungen Daniel Bierofka und Denis Bushuev gar nicht mitgezählt.

"Ich wäre noch da", witzelte Lienen. Wohlwissend, dass nicht nur die Sechziger, sondern alle Teams, die in der zweiten Liga momentan im unteren Tabellendrittel rangieren, die Fußballlehrer schon ausgetauscht haben. Die Münchner ersetzten zuletzt Kosta Runjaic durch den Portugiesen Vitor Pereira. Nur eine Ausnahme gab es: St. Pauli ließ sich auch nicht zur Entlassung Lienens hinreißen, als das Team Ende November mit sechs Punkten scheinbar abgeschlagen auf dem letzten Tabellenplatz lag.

Die Sechziger hätten nach wie vor "andere Ambitionen", sagt Lienen

Die Klubführung gab dem populären Trainer, der das Team 2015 vor dem Abstieg bewahrte und vergangene Saison auf Rang vier führte, die Chance zum Neustart. Es kehrten verletzte Profis zurück wie Christopher Buchtmann, Aziz Bouhaddouz oder Lasse Sobiech. Die drei Zukäufe im Winter - Johannes Flum (Eintracht Frankfurt), Mats Möller Daehli (ausgeliehen vom SC Freiburg) und Lennart Thy (ausgeliehen von Werder Bremen) geben dem Team jetzt eine gute Balance. In den vergangenen vier Spielen holte St. Pauli zehn Punkte und spielt derzeit mindestens so gut wie in der erfolgreichen Saison 2015/16. Am Montag gelang ein rauschhaftes 5:0 gegen den Abstiegs-Konkurrenten Karlsruher SC. Lienens Problem ist jetzt nicht mehr der Misserfolg, sondern eher, dass er vor dem Spiel in München "das 5:0 aus den Köpfen herausbekommt". Pereira wiederum dürfte bei seiner Mannschaft ein ähnliches Anliegen vorbringen.

Die mit weiterem fremdem Geld im Winter erneut mit "hochkarätigen, erfahrenen" Leuten, so Lienen, verstärkten Sechziger hätten ja trotz des mäßigen 14. Tabellenplatzes weiter "andere Ambitionen". Lienen kennt natürlich alle Neuen, die er aufzählt wie eine mathematische Formel. Den Abwehrchef Ba, der vom FC Porto kam, den Dänen Christian Gytkjaer von Rosenborg Trondheim ebenso wie den Brasilianer Amilton oder den Ghanaer Lumor, die allesamt sofort Stammplätze bei Pereira bekamen. Und weil sein Kollege vor allem auf die Neuen setze, falle es auch nicht so ins Gewicht, dass er schon der fünfte Trainer in zwei Jahren sei. Durch den Umbau sei es schon die Mannschaft Pereiras.

Das neue Hoch seines Teams, in dem derzeit niemand verletzt ist, weshalb es sogar gut trainierende Profis nicht einmal in den Kader schaffen, ist für Lienen das Ergebnis harter Arbeit. Vergessen möchte er aber auch die Fans nicht, die nicht einmal in schlimmster Lage seinen Rauswurf forderten. 3000 werden wieder mit nach München kommen. "Sie geben uns in anderen Stadien ein Zuhause", sagt Lienen. Und auch in seinem alten Zuhause würde er gerne "jeden einzelnen davon per Handschlag begrüßen".

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SZ vom 03.03.2017
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