FC Sion und die Uefa:Todsünde gegen die Familie

Eine Bagatelle wird zum heiligen Ernst: Der Fall des Schweizer Fußballklubs FC Sion, der seine Europa-League-Teilnahme einklagen will, könnte das größte Fußball-Beben seit dem Bosman-Urteil auslösen. Die Verbände drohen die Autonomie über ihre eigenen Rechtsverfahren einzubüßen - und das alles wegen sechs unerlaubt verpflichteter Spieler.

Thomas Kistner

Es begann als Folklorestreit unter wallisischen Dickschädeln, als Terminproblem. Niemand wusste offenbar genau, ob die 2009 verhängte Transferverbots-Periode gegen den FC Sion schon abgelaufen war, als der Klub im Sommer neue Spieler verpflichtete. Jetzt wird heiliger Ernst aus der Bagatelle, der laufende Gerichtsstreit treibt den internationalen Fußball auf eine Umwälzung zu, die selbst das Bosman-Urteil vor 15 Jahren in den Schatten stellen könnte. Schweizer Zivilkammern überziehen den Europa-Verband Uefa (und indirekt auch den Weltverband Fifa) mit Verfügungen - am Ende droht sich die autonome Sportgerichtsbarkeit aufzulösen.

File photo of FC Sion's manager Roussey and FC Sion's president Constantin

Hatte das Transfer-Verbot für den Schweizer Erstligisten FC Sion noch Bestand? Manager Laurent Roussey und Präsident Christian Constantin sagen Nein. Sie kämpfen um ihr Startrecht in Europa - auf allen Ebenen. 

(Foto: REUTERS)

Erstligist Sion hat sechs Profis erworben, deren Einsatz der Schweizer Fußballverband (SFV) mit Bezug auf ein unterlaufenes Transferverbot untersagte. Sion zog vor Gericht, bekam Recht, der SFV aber sperrte die Profis gleich wieder - weil Sion ein ordentliches Gericht angerufen hatte. Im Sport, der aus manchen guten und vielen zwielichtigen Gründen eine eigene Gerichtsbarkeit pflegt, dürfen nur Sportgerichte angerufen werden. Alles andere ist Todsünde. "Wir sind eine Familie", sagt Sepp Blatter, Patron dieser Fußballfamilie, "und eine Familie löst ihre Probleme stets in der Familie."

Fifa-Chef Blatter ist Walliser, wie der Mann, der ihm und der Uefa so dramatischen Ärger bereitet: Sions Klubchef Christian Constantin. Beide sind Beziehungskünstler; passionierte Selbstdarsteller, unterwegs in schnellen Autos und Privatjets - doch jetzt herrscht Eiszeit im Alpenkanton. Denn Uefa und Fifa übernahmen die Sache, Sion wurde aus der Europa League verbannt, weil der Klub auch in den Playoffs gegen Celtic Glasgow die umstrittenen Profis eingesetzt hatte. Celtic verlor, rückte trotzdem für Sion in die Gruppe, das erste Spiel fand vergangenen Donnerstag statt.

Dabei hatte Sion zwei Tage zuvor am Kantonsgericht Waadtland eine Verfügung zur Europa-League-Teilnahme erstritten, überdies wurden die sechs Sion-Spieler als rechtmäßig qualifiziert; alles bei Strafandrohung. Doch die Uefa ignoriert das Urteil, das die Sport-Kammer noch während der Berufungsverhandlung erreichte: Es käme zu spät, um berücksichtigt zu werden, hieß es. Die Uefa-Richter wiesen Sion ab.

Damit legte die Uefa, ein Verein unter Schweizer Recht, eine bemerkenswert aufsässige Haltung an den Tag. Sie offenbart die Hybris solch großer Verbände, die es gewohnt sind, sich überall in der Welt über Steuer-, Zoll- oder gar Grundgesetze hinwegzusetzen. Wenn es ernst wird, das lehrt ihre Erfahrung, reicht es, sich auf den Status als Sportweltmächte zu berufen; Politiker kuschen dann gern.

Sions Chef Constantin setzt derweil auf die - neue - Realität. Es heißt, er beschäftige acht Anwälte. Und die psychologische Situation in der Schweizer Justiz ist nicht mehr so günstig für den chronisch korruptionsumwitterten Sport, öffentlich wächst der Wunsch, den feudalen Funktionärscliquen endlich Grenzen zu setzen. Arbeitsrechtlich ist der Boden bereitet. Die Klubs haben sich in Wirtschaftsgesellschaften verwandelt, die Verbände selbst hatten darauf gedrängt.

Am Dienstag kassierte die Uefa die nächste Schlappe. Das Kantonsgericht verwarf ihr Widerrufsbegehr zu der Verfügung, dass Sion in der Europa League spielen darf: Die Uefa habe nichts vorgebracht, was "den Widerruf der Maßnahmen rechtfertigen würde". Offen ist die zweite Verfügung, nach der Tabelle und erste Resultate der Gruppe I der Europa League ohne Sion ungültig seien.

Erinnerungen an den Bosman-Erdrutsch

Langsam dämmert den Funktionären, dass auch sie dem Zivilrecht unterstehen. Die ersten zittern. "Soll der Sportstandort Schweiz gefährdet werden, weil der FC Sion einen unzulässigen Transfer getätigt hat und der Präsident aufbegehrt, statt die verhängte Strafe zu respektieren?" jammert SFV-Verbandschef Peter Gilliéron. Er sitzt auch im Uefa-Vorstand. "Mit genau dieser Arroganz hat die Uefa damals gesagt, der Fall Bosman interessiert uns nicht", analysiert hingegen ein Schweizer Verbandsinsider. Tatsächlich sind die Parallelen evident.

Auch damals löste ein Bagatellfall, der Wechsel des belgischen Zweitligakickers Jean-Marc Bosman, einen Erdrutsch aus: Die Gerichte urteilten, dass die damaligen Transfersummen, die bei Vertragsende fällig waren, den freien Personenverkehr unzulässig einschränkten. Diesmal ist das Szenario schlimmer. Die Verbände drohen die Autonomie über ihre Rechtsverfahren einzubüßen, eine Riesengefahr für den gesamten Sport.

Piermarco Zen-Ruffinen, Sportrechtler an der Universität Neuenburg, prognostiziert im Onlinedienst swissinfo Dramatisches: "Verliert die Uefa den Prozess, wird es eine Explosion geben. Im Bosman-Urteil stand nur der freie Personenverkehr auf dem Prüfstand. Jetzt riskiert die Uefa eine Verurteilung wegen Missbrauch einer marktbeherrschenden Position. Die Dimension eines solchen Urteils kann niemand abschätzen."

Dass Constantin nicht zum Sportgerichtshof Cas geht, versteht der Experte nur zu gut: Der Cas sei nicht unabhängig, da sind "gewisse Richter mit Sportverbänden verbunden". Zudem leiste er "bei weitem" nicht die Garantien der normalen Justiz: "Vor einem Sportschiedsgericht hätte Bosman nie gewonnen."

Constantin macht Druck auf allen Kanälen. Er fordert Bundesratsmitglieder auf, den Verbänden ihre Steuerprivilegien zu entziehen, weil sie richterliche Entscheide ignorieren. Und gleich das nächste Sakrileg: Aus demselben Grund stellte er, wie er nun auf SZ-Anfrage sagt, bereits letzten Freitag Strafanzeige: Gegen Uefa-Chef Michel Platini, Generaldirektor Gianni Infantino und die involvierten Uefa-Richter. Von Klagen sei ihr nichts bekannt, teilte die Uefa am Mittwoch mit. Aber es werde am Kantonsgericht Waadtland nächste Woche eine "erste Anhörung" in der Zivilsache Sion geben.

Später am Tag übten Europas 53 Nationalverbände per Deklaration den Befreiungsschlag: volle Rückendeckung für Platini, Infantino, Vorstand und Sportjustiz für ihr Bemühen, "Statuten und Reglemente des Fußballs hochzuhalten". Und, feierlich: "Das unabhängige Sportjustizsystem ist für alle im Sport der beste Garant für Gerechtigkeit und Fairness." Manche hören da schon ein Pfeifen im Walde.

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