Premier League:Red Bull Chelsea?

Premier League: Vorsichtiger Applaus: Kalidou Koulibaly, Kepa Arrizabalaga und Mason Mount (v.l.) nach dem jüngsten Sieg gegen Bournemouth.

Vorsichtiger Applaus: Kalidou Koulibaly, Kepa Arrizabalaga und Mason Mount (v.l.) nach dem jüngsten Sieg gegen Bournemouth.

(Foto: John Walton/dpa)

Der Champions-League-Sieger von 2021 steckt im Mittelfeld der Premier League fest. Nun soll der frühere Leipziger Christopher Vivell den Kader planen. Klubchef Todd Boehly will sich am Fußball-Investment des Getränkekonzerns orientieren.

Von Sven Haist, London

Lange Zeit fanden Heimsiege des FC Chelsea gegen einen Aufsteiger in der Premier League fast keine Erwähnung. Sie waren alltäglich geworden. Sogar der Klub selbst sah solche Erfolge nur als Erfüllung einer Pflichtaufgabe an.

Doch seit der Oligarch Roman Abramowitsch im Frühjahr wegen seiner (von ihm bestrittenen) Nähe zu Russlands Machthaber Wladimir Putin zum Verkauf seiner Klubanteile genötigt wurde, ist das Siegen für Chelsea keine Selbstverständlichkeit mehr. Vor der WM-Pause gab es fünf erfolglose Ligapartien in Serie, darunter drei Niederlagen. Und so war es am Dienstagabend beinahe eine Breaking News in England, dass Chelsea den abstiegsbedrohten Neuling AFC Bournemouth 2:0 bezwang.

Doch trotz des Sieges, schrieb die Zeitung Times, sei den Londonern "das vertraute Gefühl der Niederlage" vor die Füße gefallen, weil sich der gerade genesene Stammverteidiger Reece James erneut verletzte. Dessen Auswechslung drückte ähnlich auf die Stimmung wie die zahlreichen Siege der Premier-League-Spitzenteams an diesem Spieltag. Die Blues sitzen im Tabellenmittelfeld fest und drohen die Qualifikation für die Champions League zu verpassen. Dieses Szenario würde die Ambitionen des Chelsea-Vorsitzenden Todd Boehly und seiner Mitstreiter beeinträchtigen. Deren Ziel ist es, den Klubumsatz in absehbarer Zeit über die Milliardengrenze zu heben. Zuletzt wies die Bilanz nicht einmal die Hälfte aus.

Im Gegensatz zu Abramowitsch, der durchgehende Verluste mit eigenen Darlehen ausglich und erst an einer Veräußerung der Anteile verdient hätte (sofern ihm der Erlös nicht entzogen worden wäre), schweben der neuen Chelsea-Führung regelmäßige Gewinne vor. Die Eigentümer - ein von US-Milliardär Boehly und seinem Geschäftspartner Mark Walter angeführtes Investorenkonsortium, hinter dem vor allem das Kapitalvehikel Clearlake Capital steckt, das zur 4,25 Milliarden Pfund teuren Klubübernahme den Großteil beisteuerte - sehen das Wachstumspotenzial in den bisher steigenden Fernseheinnahmen und im Ausbau der Fanbasis, gerade in den USA. Dafür wären allerdings sportliche Wettbewerbsfähigkeit und eine Renovierung des maroden Stadions an der Stamford Bridge quasi Pflicht. Und: eine drastisch veränderte Transferbilanz.

Für dieses Unterfangen krempelte der frühere Investmentbanker Boehly Chelsea binnen eines halben Jahres auf beispiellose Weise um - indem er nicht nur die Führungsriege vollständig austauschte, sondern auch den Technischen Leiter Petr Cech und den Trainer Thomas Tuchel. Zudem verpflichtete Boehly als Interims-Sportdirektor im Sommer zahlreiche neue Spieler. Ein derartiger Umbruch in so kurzer Zeit stellt ein Novum dar.

Für acht Spieler gaben die Londoner eine Viertelmilliarde Pfund aus

Mit dem Wechsel an der Vereinsspitze brach bei Chelsea im Mai ein neues Zeitalter an. Die Eigentümer trennten sich am Saisonende vom vierköpfigen Vorstand um die eng mit Abramowitsch verbandelte Generalmanagerin Marina Granovskaia. Stattdessen gehören dem Gremium nun neben Boehly neun weitere Mitglieder an, alle geschäftlich bekannt mit dem Vorsitzenden. In diesem Kontext legte der frühere Chelsea-Torwart Cech sein Amt nieder, ehe Boehly nach genau 100 Tagen in London den Deutschen Tuchel abservierte - wegen unterschiedlicher Auffassungen.

Das Zerwürfnis hatte sich in der Sommer-Vorbereitung abgezeichnet, als Chelsea unter Zeitdruck den Kader verstärken musste. Eine seriöse Saisonplanung war nicht möglich, weil Chelsea bis zum Abramowitsch-Ausstieg nur einen Notbetrieb aufrechterhalten durfte. Auch deshalb verloren die Blues ihren Abwehranführer Antonio Rüdiger ablösefrei an Real Madrid. Um die Weggänge zu kompensieren und den ehrgeizigen Tuchel zufriedenzustellen, der um die Wettbewerbsfähigkeit seines Teams fürchtete, kaufte Chelsea teuer ein, sogar sehr teuer.

Für acht Spieler gab man eine Viertelmilliarde Pfund aus. Es kamen Profis für jeden Mannschaftsteil: für die Abwehr Cucurella, Fofana und Koulibaly, fürs Mittelfeld Chukwuemeka und Zakaria, für den Angriff Aubameyang und Sterling - sowie ein Reservetorwart (Slonina). Ehe sich eine schlagkräftige Elf entwickeln konnte, musste Tuchel gehen. Als Nachfolger holte Chelsea den Engländer Graham Potter - für weitere 15 Millionen Pfund vom Ligakonkurrenten Brighton & Hove Albion. Potter, 47, hatte sich dort mit Aufbauarbeit einen guten Ruf erworben. Insbesondere die attraktive Spielweise und ein beachtlicher Saisonstart verhalfen ihm zum lukrativen Chelsea-Angebot. Dort läuft es für Potter aber noch nicht wie erhofft, er probierte bisher mit mäßigem Erfolg allerhand Spieler und Formationen aus.

Nach wie vor fehlt nach dem Rüdiger-Abschied eine emotionale Leitfigur auf dem Platz. Der immer seltener spielende Kapitän César Azpilicueta, 33, ist es eher nicht. Ebenfalls nötig wäre eine Alternative für den verletzungsbedingt nur noch unregelmäßig einsatzbereiten Mittelfeldabräumer N'Golo Kanté, dessen Vertrag zum Saisonende ausläuft. Und nach einem verlässlich treffenden Angreifer fahndet Chelsea seit geraumer Zeit. Gegen Bournemouth agierte der deutsche Nationalspieler Kai Havertz in vorderster Position. Zwar gelangen ihm ein Treffer (1:0/16.) und eine Vorlage für Mason Mount (2:0/24.), aber seine insgesamt fünf Saisontore in 21 Spielen sind zu wenig für die Titelansprüche des Vereins.

Die Kaderplanung fällt fortan ins Ressort des soeben akquirierten Technischen Direktors Christopher Vivell, 36. Gerade rechtzeitig vor der anstehenden Winter-Transferperiode bestätigte Chelsea in der Vorwoche dessen Verpflichtung. Die Suche zog sich über Monate unangenehm in die Länge, weil mehrere Kandidaten abgesprungen waren, unter ihnen Christoph Freund von RB Salzburg.

Dass sich Chelsea mit dem Deutschen Vivell, 36, einigte, verrät einiges über die künftige strategische Ausrichtung. Denn Vivell verbrachte die vergangenen sieben Jahre in der Fußballabteilung von Red Bull. Zunächst war er in verschiedenen Positionen in Salzburg tätig, zuletzt arbeitete er bis Oktober als Stratege für Leipzig. Und Klubchef Boehly lobte kürzlich nichts ausführlicher als das Vorgehen des Getränkekonzerns im Fußball und referierte, sich an deren Vereinsmodell mit Niederlassungen an mehreren Standorten orientieren zu wollen.

Damit es zunächst mal beim FC Chelsea klappt, soll Vivell außergewöhnliche Talente ähnlich früh entdecken wie auf seinen vorherigen RB-Stationen. Ganz oben auf der Transferliste stehen dem Vernehmen nach Angreifer Christopher Nkunku und Verteidiger Josip Gvardiol - beide aus Leipzig.

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