Bundesliga:Bayern nutzt die Stille von Berlin

Bundesliga: FC Bayern München gegen Union Berlin während der Corona-Krise

Und im Hintergrund zwitschern die Vögel: Der FC Bayern siegt souverän an der Alten Försterei.

(Foto: dpa)

Die Münchner geben nach ihrem Pflichtsieg zu, dass die fehlende Stimmung ein Vorteil für sie gewesen ist. Wird das auch gegen den BVB zum Faktor?

Von Javier Cáceres, Berlin

Im fernen Belo Horizonte lebt ein klarsichtiger Mann namens Tostão, er wurde 1970 mit Brasilien Weltmeister. Am Sonntag erinnerte er in seiner Kolumne für die Zeitung Folha de São Paulo, die aus gegebenem Anlass eine Lobhudelei für den deutschen Fußball war, unter anderem daran, dass der Zahn der Zeit auch vor dem "erfahrenen" Thomas Müller nicht haltmache, der frühere Nationalspieler ist ja nun auch schon 30 Jahre alt. Am Sonntagabend stand ebendieser Thomas Müller im Stadion An der Alten Försterei in Berlin Köpenick, und er leistete sich einen Scherz, der nicht ausdrücklich eine Belustigung über Menschen fortgeschrittenen Alters enthielt, wohl aber davon erzählte, dass er sich unterbewusst zu den Jungspunden des Planeten Fußballs zählt.

"Das hat ein bisschen was von Alt-Herrenatmosphäre, 19 Uhr, Flutlicht", sagte Müller, und es fehlte nur, dass er Karl-Heinz Rummenigge, 64, auf den Rasen gebeten hätte; der Vorstandschef des FC Bayern und vormalige Stürmer war einer der handverlesenen Tribünengäste in Köpenick. Tat Müller aber nicht. Trotz bester Laune darüber, dass sein FC Bayern die Partie souverän mit 2:0 gewann und die Tabellenspitze verteidigte, nach Toren von Robert Lewandowski (40./Foulelfmeter) und Benjamin Pavard, der nach einer Ecke per Kopfball getroffen hatte (77.).

Das alles in einer Atmosphäre gespenstischer Stille, die Fragen aufwarf. "Ich habe keine Geister gesehen", sagte Bayern-Trainer Flick, angesprochen auf das Thema. Und er klang dabei ein bisschen wie der Sowjetkosmonaut Juri Gagarin, der beteuert haben soll, keinen Gott gesehen zu haben, als er von der ersten Reise eines Menschenkindes durchs Weltall zurückkehrte.

"Bis das Spiel abgepfiffen wird, fühlt es sich länger an"

Was Trainer Flick hingegen sah, war ein Spiel, das auch Längen bereithielt, aber wirklich nur phasenweise eine Partie für Ornithologen war. Für jene also, die lieber dem Gesang der Vögel lauschten, die in den Wipfeln der Bäume saßen, die das Stadion An der Alten Försterei säumen, als dem Spiel zu folgen. Bayerns Torwart Manuel Neuer war es am Ende wohl zu viel der Muße. Ohne Zuschauer, so erklärte Neuer, wollen die Sekunden und Minuten nicht vergehen. "Bis das Spiel abgepfiffen wird, fühlt es sich länger an", sagte Neuer.

Fluchtgedanken aber musste man nicht unbedingt haben. Die Bayern waren wie Forensiker bemüht, ein strukturiertes Spiel aufzuziehen, doch das wirkte wegen der formidablen Ordnung der Unioner mitunter fast prätentiös. "Jeder Einzelne kann seine Sache besser machen", urteilte Flick, verzichtete aber darauf, um mildernde Umstände werben. Es war auch gar nicht nötig. Dass auch die Bayern gut sechzig Tage ohne Spielpraxis und damit einem beispiellosen Oxydationsprozess unterworfen waren, war allen gegenwärtig, die ins Stadion durften. Ansonsten dürfte es Flick behagt haben, dass es seiner Mannschaft nach Abpfiff nicht an Selbstkritik mangelte.

"Heute hätten wir uns spielerisch von einer besseren Seite zeigen können, das ist Fakt, aber dennoch haben wir das Spiel hier verdient gewonnen", sagte Neuer ein, und auch Thomas Müller erklärte, dass sein Team "an der einen oder anderen Stelle noch Luft nach oben" habe. Vor allem in der Anfangsphase sei dies der Fall gewesen: "Wir haben viele lange Bälle gespielt, keine festen Pässe in die Zwischenräume bekommen. Das wurde dann besser."

Erst gegen Frankfurt, dann gegen den BVB

Mitentscheidend dafür war, dass es sich Mittelstürmer Robert Lewandowski nicht nehmen ließ, den Elfmeter zu treten - und zu verwandeln. Das war nicht nur als Fundament für den Sieg von Bedeutung, sondern vor allem perspektivisch. Für jeden Torjäger ist die Konfrontation mit dem Tor wichtig; erst recht, wenn er wie Lewandowski eine Operation wegen eines Anbruchs der Schienbeinkante hinter sich hat.

Wohl auch vor diesem Hintergrund bemängelte Flick, dass seine Mannschaft es versäumt hatte, ihren gerade genesenen Torjäger stärker ins Spiel einzubinden. Aber es reichte auch so für Lewandowskis 26. Saisontor, und daher auch für Fragen nach der Möglichkeit, die monumentale Bestmarke von Gerd Müller aus der Saison 1970/71 zu egalisieren. Damals hatte der einzigartige "Bomber" in der Bundesliga 40 Treffer erzielt. "Acht Spiele hat er noch, um den Rekord zu brechen. Es wird nicht einfach", sagte Flick. Aber wichtiger war ihm, dass sein Mittelstürmer "einen sehr guten Eindruck" macht, "er ist topfit".

Das dürfte die Bayern erst recht hoffen lassen, dass dem siebten Titel in Serie, der am Montag vor genau einem Jahr begossen wurde, nun doch der achte folgen kann. "Das Ziel ist ganz klar. Das heute war ein erster Schritt", sagte Müller, der Erfahrene. Am Wochenende empfangen die Münchner die Frankfurter Eintracht, die Gedanken sind freilich wohl schon beim Dienstag drauf; beim Spiel also beim Tabellenzweiten Borussia Dortmund, vor der verwaisten "Gelben Wand", der dortigen Südtribüne, der Heimstatt der Treuesten unter den Fans des BVB.

Und wer weiß, vielleicht werden sich die Bayern daran erinnern, was sie als Schlussfolgerung aus der Visite in Köpenick zogen: dass die Geisteratmosphäre ihnen zumindest nicht ungelegen kam. "Vielleicht war das heute ein kleiner Vorteil für uns, weil die Stimmung hier schon das Zünglein an der Waage sein kann", sagte Müller. Denn in Dortmund machte sich das Publikum vor Corona mindestens genauso energisch bemerkbar wie die Fans von Union in der Alten Försterei.

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