FC Bayern:Sie werden's nicht glauben: Thomas Müller ist doch fehlbar

FC Bayern Muenchen v Club Atletico de Madrid - UEFA Champions League Semi Final: Second Leg

Einmal nicht der strahlende Sieger: Thomas Müller.

(Foto: Bongarts/Getty Images)

Der Müllerthomas als tragische Figur - wann hat man das zuletzt erlebt? Seriös geschätzt: Eigentlich nie. Das Spiel gegen Atlético markiert die erste kleine Verletzung in seiner Karriere.

Von Christof Kneer

In der 31. Minute dieses Spiels kam einem Thomas Müller sehr bekannt vor. Es gab Freistoß für den FC Bayern, und Müller machte das, was er noch besser kann als Tore schießen: Er redete. Er sprach auf Augusto Fernández ein, verwickelte Diego Godin in einen Dialog, auch Schiedsrichter Cüneyt Cakir bekam ein paar Worte ab. Dann sagte Müller etwas zu Arturo Vidal, und das war alles recht bewundernswert, weil Müller eigentlich gar keine Zeit zum Reden hatte. Erst schubste ihn Fernando Torres in der Mauer herum, dann tauschte Müller kleine Rempler mit Fernandez aus, schließlich hüpfte er über die gesprühte Linie von Schiedsrichter Cakir und wieder zurück.

Müller ist ein gefürchteter Multitasker, er kann reden, schubsen, reden, rempeln, reden, hüpfen und reden gleichzeitig, und an einem guten Tag hätte er noch den Freistoß geschossen und nebenbei, selbstredend, die Mauer beiseite geschoben. Das Selberschießen ließ er an diesem Tag, das Beiseiteschieben gelang ihm dafür besonders eindrucksvoll: Als Xabi Alonso schoss, ging Müller in die Knie und machte einen natürlich sehr unsportlich aussehenden Buckel - er zog dabei aber auch zwei sportliche Spanier mit, und so sauste der Ball durch eine freigemüllerte hohle Gasse zum 1:0 ins Netz.

Einer wie Müller ist in der Branche gar nicht vorgesehen, deshalb gibt es auch keine angemessenen Statistiken für ihn. Ohne ihn wäre dieses 1:0 im Halbfinal-Rückspiel der Champions League kaum gefallen, so eine Aktion hätte ihm ganz dringend einen Assistpunkt einbringen müssen. Aber Punkte für Freistoßmauerbuckel werden noch nicht vergeben. Müller muss sich seine Einträge einstweilen anders besorgen, mit Elfmetern zum Beispiel.

Müller plötzlich in der Defensive

Der FC Bayern hat das Champions-League-Finale zum dritten Mal in Serie verpasst, aber als später die Gründe verhandelt wurden, ließ sich gegen den üblichen Verdächtigen selbst bei penibelster Suche nichts vorbringen. Selbst die fundamentalistischsten Mia-san-mia-Traditionalisten haben aus Taktik, Aufstellung und Coaching keinen Vorwurf an Pep Guardiola konstruieren können, und so lag eine verbotene Frage nahe: Hat etwa ein Mia-san-mia-Traditionalist das Duell verloren? Hat's diesmal der Müller vercoacht?

Fußball könne "extrem unfair" sein, das hat Müller nach dem um ein Tor zu niedrigen 2:1-Sieg gegen Atlético Madrid ja selbst gesagt, aber so unfair, dass man die obige Frage bejahen sollte, ist der Fußball dann vielleicht auch wieder nicht. Allerdings hat Müller nur drei Minuten nach seiner buckligen Torvorbereitung tatsächlich einen Elfmeter verschossen, Torwart Jan Oblak war tatsächlich cooler als er. "Zu diesem Zeitpunkt hätte uns eine 2:0-Führung natürlich gut getan", räumte Müller später ein, "aber eine Garantie für ein Weiterkommen wäre es auch nicht gewesen."

Als Thomas Müller das sagte, kam er einem gar nicht mehr bekannt vor. Ungewöhnlich war ja nicht nur, dass er in der Mixed Zone kein Witzchen machte, kein Kalauer kam über seine Lippen, keine freche Gegenfrage. Wenn man einen Elfmeter schieße, gebe es "immer zwei Möglichkeiten, entweder der Ball geht rein oder er geht nicht rein": Solche Sachen sagte er. Aber ein unorigineller Müller war nicht das Exotischste an diesem Gespräch. Das Exotischste war die Gesprächsgrundlage.

Thomas Müller in der Defensive: Wann hat man das zuletzt erlebt? Seriös geschätzt: Eigentlich nie.

Die erste kleine Verletzung in Müllers Fußballerleben

Der FC Bayern hat nicht alles gewonnen in den vergangenen Jahren, auch die deutsche Nationalelf war, so weit man sich erinnert, nicht durchgehend Weltmeister, aber auf eine Konstante war stets Verlass: Der Müller ist ein Riesentyp, und an den vielen Siegen war er immer beteiligt und an den wenigen Niederlagen niemals schuld.

Wer sich die wenigen markanten Niederlagen der jüngeren deutschen Fußballgeschichte in Erinnerung ruft, kommt tatsächlich zu dem Schluss: Mit Müller wären sie vielleicht gar nicht passiert. Im inzwischen eher berüchtigten als berühmten Finale dahoam hat Trainer Jupp Heynckes kurz vor Ende Thomas Müller ausgewechselt, nach dessen vermeintlichem Siegtor (man stelle sich die Empörung der Mia-san-mia-Traditionalisten vor, wenn der Wechsel Pep Guardiola unterlaufen wäre); was folgte, war der Ausgleich und ohne Müller ein absurdes Elfmeterschießen, für das die Münchner beinahe nicht genügend Schützen aufgetrieben hätten. Und im Halbfinale vor einem Jahr saß Müller auch bereits auf der Bank, als Bayern in Barcelona kollabierte; beim Stand von 0:1 hatte ihn Guardiola (ja, diesmal war er es) vor der Zeit abberufen und durch Mario Götze ersetzt.

Noch prachtvoller zeigt sich Müllers Wert beim DFB: Als Joachim Löw das eher berüchtigte als berühmte EM-Halbfinale 2012 gegen Italien nach allgemeiner Lesart vercoachte (ja, der konnte das auch mal), bestand der vielleicht entscheidende Denkfehler ja darin, Müller draußen zu lassen. Und als die Deutschen zwei Jahre zuvor bei der WM in Südafrika im Halbfinale den Spaniern unterlagen, war die Geschichte des Spiels schnell erzählt: Die jungen Deutschen konnten ja gar nicht gewinnen. Grund: Der junge Müller fehlte gesperrt.

Ein Müllerthomas bleibt ein Müllerthomas

Das Unfehlbarkeitsdogma des Thomas Müller war in den vergangenen Jahren stets eine Art nationaler Konsens. Alle wussten, dass dieser Kerl in Ermangelung handelsüblicher Muskeln und Gelenke nie verletzt sein kann, und schlecht spielen konnte der ja auch nicht, jedenfalls nicht so, wie normale Fußballer schlecht spielen. Es kam zwar mal vor, dass der Müllerthomas sich in der Umkleidekabine von den vier Paar Haxen in seinem Spind das falsche Paar griff und dass der Ball dann an seinem Fuß ein bisserl umeinanderhupfte, aber meistens war das wurscht, weil es für irgendein buckliges Tor trotzdem reichte. Und wenn es nicht für ein Tor reichte, war es ebenfalls wurscht, weil alle wussten, dass es beim nächsten Mal wieder reicht.

Es hat erst ein Spiel wie das gegen Atlético gebraucht, um zu begreifen, welch makellose Karriere dieser Müller bisher gemacht hat. Viele große Spieler haben sich erst aus Widerständen entwickelt, viele Helden hatte erst mal Brüche in ihren Karrieren oder in ihren Wadenbeinen. Müller, immerhin schon 26, hat nie einen Fehlschuss bewältigen, nie einem Kreuzband beim Heilen zusehen müssen, er ist mit einem lässigen Servus! auf die große Bühne gesprungen und mit sehr lässiger Selbstverständlichkeit einfach da geblieben.

Der Elfmeterfehlschuss gegen Atlético markiert nun die erste kleine Verletzung in Müllers Fußballerleben, das Band des Vertrauens, das die Menschen mit ihm verbindet, hat er sich ein wenig gezerrt. Aber nach allem, was man weiß, ist das keine Diagnose, die Anlass zur Sorge gibt. Ein Müllerthomas bleibt ein Müllerthomas, am Donnerstag hat er sich schon wieder unter sein Volk gemischt. Beim Münchner Reitturnier Pferd International hat er seiner Frau Lisa im Dressurwettbewerb zugeschaut, er hat Hunde gestreichelt, Autogramme geschrieben und wahrscheinlich schon wieder ein paar Witzchen gemacht.

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