Süddeutsche Zeitung

Spielbericht:Wie viel Unglück passt in ein einziges Fußballspiel?

Das einseitigste Finale der Champions-League-Geschichte findet ein tragisches Ende: Der FC Chelsea schlägt den FC Bayern in dramatischer Art und Weise im Elfmeterschießen. Die Münchner vergeben in 120 Minuten Chancen für vier Endspiele und werden in dieser Saison zum dritten Mal Zweiter.

Frieder Pfeiffer

Es gibt nicht viele Sportarten, in denen die deutlich schwächere Mannschaft gewinnen kann. Der Fußball aber gehört dazu. Und der FC Chelsea ist ein Meister in der Disziplin Siegestehlen. So deutlich darf das gesagt werden nach dem wohl einseitigsten Finale der Champions-League-Geschichte.

Und es ist die Antwort auf die Frage, die sich nach diesem unglaublichen Spiel mit Bayern-Chancen für vier Endspiele, einem späten Ausgleich und einem vergebenen Robben-Elfmeter in der Verlängerung stellt: Wie viel Unglück passt in ein einziges Fußballspiel? 4:3 im Elfmeterschießen, das knappste Ergebnis für den deutlichsten Spielverlauf - und das auch noch falsch herum. Dramatischer und bitterer hätte die Saison des FC Bayern nicht enden können: Ein deutsches Team verliert zuhause im Elfmeterschießen gegen eine Mannschaft aus England.

"So ist Fußball", stammelte Thomas Müller, dem "die Worte fehlten". Und Manuel Neuer, der die meiste Zeit einen entspannten Blick auf das Spiel gehabt hatte, fand eine zu allgemein zutreffende Sichtweise: "Wenn man das Spiel gesehen hat, hat man nicht damit rechnen können, dass Chelsea als Sieger vom Platz geht." Trainer Jupp Heynckes sah vor allem die vielen verschenkten Möglichkeiten: "Das darf nicht passieren."

Es waren nur wenige Zentimeter, die Bastian Schweinsteiger bei dessen Elfmeter fehlten, vom Innenpfosten prallte der Ball zurück ins Feld. Es war ein Sinnbild, wie knapp die Bayern in dieser Saison an allen Zielen vorbeischrammten.

Didier Drogba vollendete wenige Augenblicke später, Schweinsteiger lag zu diesem Zeitpunkt in seinem Trikot vergraben am Mittelkreis. Die große Generation der Bayern bleibt weiter ohne internationalen Titel, Drogba hingegen krönte seine Zeit in London mit einem letzten Treffer - und dem ersten Champions-League-Titel für den Klub von Roman Abramowitsch.

Es war das schlimmstmögliche Ende eines langen Weges. Seit Monaten hatte die Bayern-Seele nur auf dieses eine Datum hingelebt, den 19. Mai 2012. Ein Jahr für dieses ein Spiel, eine Saison für diesen einen Abend. Uli Hoeneß nannte es das "Highlight der Vereinsgeschichte", schon 2010 hatte er gefordert: "Da müssen wir dabei sein!" Vor dieser Saison war klar: Meister? Gerne. DFB-Pokalsieger? Gerne. Das Champions-League-Finale im eigenen Stadion gewinnen? Aber bitte, unbedingt.

Gerade in diesem Endspiel, das über die historische Einordnung dieser goldenen Bayern-Generation urteilen würde, musste Trainer Jupp Heynckes improvisieren. Die Bayern vermissten David Alaba, Holger Badstuber und Luiz Gustavo, dafür kamen Diego Contento, Anatolij Timoschtschuk und Thomas Müller zum Einsatz. Chelsea war in der Defensive ebenfalls auf Experimente angewiesen. Auch ihnen fehlten drei Spieler, die sich aufs Tore verhindern verstehen. Hinzu kam in Offensivkünstler Ramires der insgesamt siebte gesperrte Profi dieses Finals.

Chelseas Trainer Roberto di Matteo schlug im Taktikbuch wohl auch deshalb wieder das Kapitel Bollwerk auf und stellte auf seine linke Seite gleich zwei Außenverteidiger, neben Ashley Cole lief Ryan Bertrand auf. Bisherige Champions-League-Einsätze des 22-jährigen Engländers: null.

Frisch genäht präsentierten sich beide Abwehrreihen im wichtigsten Spiel der Saison. Niemand wusste, wie schnell das Gewebe auf der einen oder anderen Seite unter Wettkampfdruck auseinanderreißen würde. Klar war jedoch schnell: Di Matteo hatte den deutlich dickeren Garn benutzt. Blau sortierte sich vor dem eigenen Tor, Rot durfte einige Offensivaktionen anbieten.

Nach zehn Minuten hatten bereits Kroos, Schweinsteiger und Robben in aussichtsreicher Position vor dem Chelsea-Tor Maß nehmen dürfen, nach 13 Minuten trug sich auch Gomez in die Torschussstatistik ein, die damit schnell auf 4:0 schaltete. Allein, die Videoleinwand vermeldete: 0:0.

Die Bayern agierten deutlich flexibler als gewohnt, Ribéry, Robben und Müller rotierten hinter Gomez laufhungrig hin und her. Die überwundene Statik verschaffte den Münchnern Raum, durch den die dichte Defensive des FC Chelsea ein wenig entzerrt werden konnte. Die Chancen häuften sich. Nach gut 20 Minuten scheiterte Robben an Chelsea-Keeper Petr Cech und dem Pfosten. 5:0 stand es nun nach Ecken. Allein, die Videoleinwand vermeldete: 0:0.

Drei Minuten später trat Ribéry sogar die siebte Ecke - und Roberto di Matteo schickte seine Einwechselspieler zum Aufwärmen. Auch das half nichts, Manuel Neuer musste weiter nur Bälle von Balljungen fangen, die Bayern dominierten weiter. Gomez, von einer abgefälschten Flanke überrascht, verstolperte alleingelassen im Strafraum (39.) und vergab auch drei Minuten später eine weitere gute Möglichkeit. Gefühlt stand es inzwischen 23:1 nach Chancen. Die Videoleinwand zeigte das nicht an. Sie vermeldete: 0:0.

Wann würden die Bayern anfangen zu hadern? Mit dieser Frage begann Halbzeit zwei, in der das inoffizielle Heimteam jedoch weiterhin den Rasen bis in den Londoner Strafraum mit großer Präsenz beherrschte, direkt vor dem Tor jedoch an fehlender Präzision oder der Abseitsregel scheiterte (Ribéry, 54.).

Chelsea hatte kein Problem damit, eine für ein Finale unwürdige Leistung anzubieten, die Bayern hingegen ein großes, dieses Angebot wirklich anzunehmen. Die Münchner waren so überlegen wie in Zeiten von Basel, Berlin und Hoffenheim, in denen die Chronisten mit dem Notieren von Treffern nicht nachkamen. Nun blieben sie lange arbeitslos. Die Videoleinwand vermeldete: 0:0.

Es war ein kleines Wunder: Chelseas Notabwehr war weit davon entfernt, zu funktionieren. Doch selbst im größten Bayern-Sturm hielt sie dennoch einigermaßen dicht. Neben dem Fußballgott verbündete sich auch die Zeit mit dem FC Chelsea - nach 77 Minuten legte Müller den Ball freistehend am Tor vorbei.

Doch er lernte. Fünf Minuten später traf er per Kopf, wurde von den Mitspielern in einer rot-goldenen Traube versenkt, das Spiel schien endlich seinen vorgesehenen Verlauf zu nehmen. Doch natürlich musste Didier Drogba in seinem letzten Spiel für Chelsea noch eine Rolle spielen. Die 90. Minute war fast angebrochen, da schlugen die Engländer ihre erste Ecke (Bayern zu diesem Zeitpunkt 16), Drogba enteilte Boateng - und traf zum 1:1. Die Videoleinwand vermeldete: Verlängerung. Das Wunder wurde größer.

Drei Minuten nach Wiederanpfiff foulte Drogba Ribéry. Robben, der Mann für die wichtigen Elfmeter, lief an - und scheiterte wie schon in Dortmund am Torhüter. Ribéry scheiterte an seinem Körper, Ivica Olic sprintete aufs Feld. Er war nun einer der wenigen, die dazu noch in der Lage zu sein schienen.

In der 108. Minute tauchte der Kroate frei vor Cech auf, wollte auf den eingewechselten Daniel van Buyten legen, schob ihn aber am Tor vorbei. Bei den Bayern paarten sich nun Erschöpfung und Verzweiflung - die historische Überlegenheit blieb. Sie kämpften, schossen und wurden immer wieder geblockt. Runde 20 Beine im Londoner Strafraum waren immer wieder zu viel.

Ein Spiel, das mindestens 4:1 hätte ausgehen müssen, ging ins Elfmeterschießen. Lahm traf, Neuer hielt. Gomez traf, Neuer traf, Olic scheiterte, Schweinsteiger scheiterte - der Rest war unermessliche Unfassbarkeit. Ein Wunder, wie es niemand erleben will. Ein blaues Wunder.

"Unsere Stadt, unser Stadion - unser Pokal" hatten die Bayern-Fans vor dem Spiel in ihrer Choreographie gefordert. Nach diesem Spiel gibt es wohl nicht wenige, die den Pokal trotz Niederlage sehr gerne in Münchner Besitz übergeben würden. Die Videoleinwand zeigte jedoch jubelnde Spieler in blauen Trikots. Sie hielten den Pokal in den Himmel.

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