Süddeutsche Zeitung

Thomas Müller:Der Mentalitätsminister

Wieder einmal ist Thomas Müller ein Faktor beim FC Bayern - nicht nur durch Tore, sondern auch durch seinen Ton auf dem Platz. Und in Sachen DFB-Team weiß er, dass seine Leistungen für sich sprechen.

Von Sebastian Fischer

Jamal Musiala wäre vermutlich alleine drauf gekommen, aber es konnte auch nicht schaden, ihm diesen Tipp zu geben. Eine halbe Stunde war vorüber im Spiel des FC Bayern gegen RB Leipzig, Zwischenstand 0:1, der 17 Jahre junge Mittelfeldspieler führte den Ball in günstiger Abschlussposition am Strafraumrand. "Schieß!", rief Thomas Müller durch die leere Arena. Musiala schoss und traf.

Das 3:3, mit dem der deutsche Rekordmeister am Samstagabend gegen seinen derzeit besten Verfolger die Tabellenführung in der Bundesliga verteidigte, ist hinterher von allen Beteiligten und Beobachtern als Spektakel gewürdigt worden, als wilde, packende Begegnung auf hohem fußballerischen Niveau.

Das lag auf beiden Seiten an sehr viel Klasse und Tempo im Offensivspiel, genauso wie an riskanter, oft unabgestimmter Abwehrarbeit - besonders beim FC Bayern. Es hatte aber auch, daran führte keine Interpretation vorbei, mal wieder mit dem Auftritt von Thomas Müller, 31, zu tun.

Neun Tore, neun Vorlagen? Von der offiziellen Scorer-Statistik wird Thomas Müller unvollständig erfasst

Der frühere und womöglich ja doch wieder zukünftige Nationalspieler, dazu später mehr, hat in dieser Saison in allen Wettbewerben schon neun Tore geschossen und neun vorbereitet, doch diese Statistik ist unvollständig. Dort, wo auf den einschlägigen Webseiten kleine Bälle Scorer-Punkte anzeigen, müsste in der Spalte "Müller" noch ein Symbol hinzugefügt werden.

Ein Brüll-Emoji zum Beispiel, für jedes koordinierte Angreifen, das er mit seinem Kommando eingeleitet hat, für jedes Anmoderieren von Toren, für jedes Ermahnen. "Kann hier mal einer die Verantwortung übernehmen?", rief Müller nach fünf Minuten, da sich offenbar niemand beim FC Bayern so richtig zuständig dafür fühlte, sich den Leipziger Angriffen in den Weg zu stellen.

Bayern-Trainer Hansi Flick sah nicht unbedingt euphorisch aus, als er sich nach dem Spiel zur digitalen Pressekonferenz vor die Kamera setzte. Für Trainer sind wilde Spiele oftmals eher ein Ärgernis, zumal da sich die nur von höchst anspruchsvoller Offensivstärke übertroffene Defensivschwäche als Muster durch die Münchner Saison zieht. Der unerreichten Spitzenmarke von 34 Toren stehen 16 Gegentreffer entgegen, ein Wert fürs Liga-Mittelfeld.

Flick bemängelte "zu leichte" Gegentreffer und die Abstimmungsfehler in der nicht eingespielten Viererkette, die beim Tor zum 2:3 ganz besonders zutage traten: Das Innenverteidiger-Duo aus Jérôme Boateng und Niklas Süle, aufgestellt in Vertretung des für den angeschlagenen Lucas Hernández diesmal links verteidigenden David Alaba, ließ Leipzigs Emil Forsberg meterweit Platz für seinen Kopfball aus nächster Tornähe.

Flick bemängelte zudem, dass die Fehlerketten schon vorher begannen, mit "unvorbereitet diagonal" geschlagenen Pässen im Spielaufbau, denen Ballverluste folgten. Und auch, weil am Samstag merklich jemand fehlte, der den verletzten Joshua Kimmich als Passgeber und Absicherer im defensiven Mittelfeld ersetzte, rollten die Leipziger Angriffe oft schier unkontrollierbar auf Münchens stets weit aufrückende Abwehr zu. Sechsmal, nach eigener Zählung, musste Torwart Manuel Neuer vor dem Strafraum offensiv verteidigen, um einen Angriff abzufangen, was beim 0:1 durch Christopher Nkunku (19.) schiefging.

Für Flick wird es in den letzten Wochen des Jahres nicht einfacher, eine routinierte Abwehr zu organisieren. Der Spielrhythmus bleibt hoch, und sowohl Boateng als auch Javi Martínez mussten angeschlagen ausgewechselt werden: Ersterer mit muskulären Problemen, Letzterer vermutlich mit einem Muskelfaserriss. Flick stellte in Aussicht, im Trainerteam über Anpassungen taktischer Art nachzudenken.

Doch zumindest am Samstag konnte er noch das Fazit ziehen, dass die Mannschaft die Defensivprobleme kompensiert hatte. Einen "Glückwunsch für die Mentalität" richtete er an die Spieler. Und das war natürlich ein Lob für den Mentalitätsminister im Team, den Beauftragten für Wollen, Nicht-Aufgeben und Weitermachen.

"Er ist einer von denen, die den Widerstand organisieren", lobt Hansi Flick

Nach dem ersten Bundesliga-Spitzenspiel dieser Saison, dem 3:2 gegen Borussia Dortmund, hatte sich Flick auf dem Platz sogar vor Müller verbeugt. Eine spontane Geste, die seinen Respekt vor der Mannschaft habe ausdrücken sollen, sagte der Trainer neulich im SZ-Interview. Müller coache und unterstütze die Mitspieler, erklärte Flick: "Er ist einer von denen, die den Widerstand organisieren und den Impuls geben, verlorene Bälle gleich wieder zurückzuerobern."

Müller war gegen Leipzig gar nicht der beste Offensivspieler auf dem Feld, er selbst sah seine Leistung auch eher kritisch. "Für mich waren heute bei mir auch zu viele Ballverluste dabei", sagte er bei Sky. Bester Münchner war eher Flügelspieler Kingsley Coman, der alle drei Tore vorbereitete. Und auch Musiala, nach 25 Minuten für Martínez eigewechselt, spielte erneut stark, er war nach seinem Treffer auch an der Entstehung der anderen beiden Tore entscheidend beteiligt.

Doch chaotische Spiele sind eben Müller-Spiele: Jenem am Samstag gab er nicht zuletzt mit einem klugen Laufweg vor seinem Kopfball zum 3:3 (75.) die entscheidende Wendung. Und wenn man es etwas überspitzt, dann hat er auch seinen Anteil daran, wenn ein Talent wie Musiala überzeugt.

Beide spielen auf ähnlichen Positionen; Müller dürfte zu jenen Profis gehören, die dem 17-Jährigen im Training Tipps geben. Am Samstag war Müllers Anweisung an Musiala, den Ball aufs Tor zu schießen, nicht die einzige. Er lobte ihn auch für richtige Ideen, wenn deren Umsetzung schiefging.

Müllers Rolle im Umgang mit jungen Spielern, sie führt schließlich zu einer Rolle, die er in der Nationalelf spielen könnte, sollte Joachim Löw die Entscheidung von 2019, Müller, Boateng und Mats Hummels im Zuge des Generationen-Umbruchs nicht mehr zu nominieren, doch noch mal überdenken. "Schauen wir mal", sagte Müller am Samstag. Auch mit Löw als Bundestrainer werde es gelingen, wieder "Schwung in die Bude" zu kriegen, ergänzte er noch. Wie genau, da hätte Thomas Müller bestimmt ein paar Ideen.

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