Es war im Juni 2019, als es der gebürtige Schorndorfer Sven Ulreich, 32, sogar einmal ins Aufgebot der deutschen Nationalmannschaft schaffte. Bundestrainer Joachim Löw nominierte ihn damals als Ersatztorhüter, nachdem Marc-André ter Stegen vom FC Barcelona und Bernd Leno vom FC Arsenal ausfielen.
Diese Nominierung hatte damals neben der Honorierung von Ulreichs Leistungen noch einen praktischen Grund. Löw berief den Mann, der die Rolle des unbedingten Ersatzmannes in Deutschland so gut wie nur wenige andere beherrschte. Ulreich war zu diesem Zeitpunkt der zweite Torhüter beim FC Bayern - der Mann hinter Manuel Neuer, der sich als solcher fügte und wenig Ansprüche stellte. Das passte ganz gut, denn Neuer, das ist mittlerweile auch außerhalb der Trainingsanlage der Säbener Straße bekannt, will immer spielen.
Der Sportvorstand des FC Bayern, Hasan Salihamidzic, hat nun wieder auf dieses bewährte Modell zurückgegriffen. Und Ulreich erlebt eine Renaissance in München, nachdem er den Klub im Sommer 2020 bereits Richtung Hamburg verlassen hatte. Am Sonntagabend bestätigte der FC Bayern die Rochade.
Damit ergibt sich vermutlich sogar eine Win-Win-Win-Win-Situation - für den FC Bayern, für Salihamidzic, für Sven Ulreich und sogar für den bisherigen Ersatztorhüter Alexander Nübel. Denn dieser wechselt auf Leihbasis zum französischen Fußball-Spitzenverein AS Monaco, wo er unter dem ehemaligen Münchner Trainer Niko Kovac auf mehr Einsatzzeiten hofft. Auch dieser Wechsel wurde am Sonntag bestätigt: "Es war Alexander Nübels Wunsch, dass er Spielpraxis sammelt, das haben wir unterstützt", sagte Salihamidzic. Die Voraussetzung sei allerdings gewesen, "dass wir eine seriöse Nummer 2 verpflichten können". Torwarttrainer Toni Tapalovic habe zu Ulreich geraten, und so wurde Einigung erzielt. Das Ergebnis, von Salihamidzic Verbundlösung genannt, sei "sehr charmant", denn es helfe allen Beteiligten und passe auch in den finanziellen Rahmen, "weil Sven ablösefrei zurückkehren wird".
Nübel gilt immer noch als eines der größten Talente der Torhüternation Deutschland
Nübel, auch das war bekannt, tickt ja in einer Sache wie Neuer: Er will unbedingt spielen, nur ging das in im Stammplatzkampf mit dem weltbesten Torhüter schwerlich. Vier Einsätze absolvierte er in der Saison 2020/21. "Diese Situation ist unbefriedigend", sagte Nübel-Berater Stefan Backs noch kürzlich dem Kicker: "Man muss im Sommer über eine Ausleihe nachdenken, wenn Alex nicht mehr zum Spielen kommt."
Der nun vollzogene leihweise Wechsel zum früheren Bayern-Trainer Niko Kovac, der sich bis zu seinem Ende in München im November 2019 offenbar für Nübels Verpflichtung eingesetzt hatte, ist ein kluger Schachzug der Bayern. Schließlich hält der Klub den 24-Jährigen, der weiterhin als eines der größten Talente der Torhüternation Deutschland gilt, über Umwege im Klub. Der FC Bayern sicherte sich die Option, Nübel nach einer Saison zurückholen zu können. Im Training in München überzeugt Nübel durchaus. "Der FC Bayern plant für die Zukunft weiter mit Alexander Nübel", sagte Salihamidzic.
Ulreich dagegen spielte zuletzt eine Saison zweite Liga für den HSV, weil er nach seiner Zeit beim VfB Stuttgart und den folgenden fünf Münchner Jahren als Nummer zwei doch mal wieder Stammtorwart sein wollte. In Hamburg erlebte er dann jedoch nicht seine beste Spielzeit, verpasste den angepeilten Aufstieg, wirkte manchmal unsicher und löste am Ende seinen Vertrag auf (ohne eine Entschädigung zu fordern) - auch weil der neue, radikal-offensive Trainer Tim Walter auf Torhüter vertraut, die mit dem Ball am Fuß begabter sind.
Ulreich, Neuer und Torwarttrainer Toni Tapalovic kommen prima miteinander aus
Weil es ihn anders als den zuletzt ebenso ins Blickfeld geratenen Stefan Ortega (Bielefeld) kostenfrei gibt, ist Ulreich die Ideallösung für die Bayern. Er kennt diese Stelle mit ihren eigenen Anforderungen: als Back-up sofort da zu sein auf dem Feld, wenn man ihn braucht (in allen Wettbewerben bis hin zur Champions League), ansonsten aber vorwiegend als Sparringspartner für Neuer zu fungieren.
Beim FC Bayern gibt es diese Stelle übrigens nicht nur ganz hinten in der Aufstellung, sondern auch ganz vorne: Da haben sie nach Jahren der Suche vor der vergangenen Spielzeit in Eric Maxim Choupo-Moting einen idealen Ersatzmann für Robert Lewandowski gefunden. Auch der Pole lässt ungern mal ein Spiel aus. Wenn doch, springt Choupo-Moting ein und trifft.
Dass sich eine fähige Absicherungskraft auch auf der Torhüter-Position lohnt, wissen die Bayern seit Neuers Mittelfußbrüchen 2017 und 2018 sowie einem Muskelfaserriss 2019. Und Ulreich hat durchaus Erfolge vorzuweisen: 2017 wurde er im Elfmeterschießen im DFB-Pokal gegen Leipzig zum Matchwinner, auch im Champions-League-Viertelfinale jener Spielzeit gegen Sevilla hielt er prächtig. Im Halbfinale fabrizierte er dann allerdings einen folgenschweren Fehler gegen Real Madrid.
Bei seiner Rückkehr wird Ulreich nun einen etwas verloren gegangenen Wohlfühlfaktor in München wiederbeleben: Er, Neuer und Torwarttrainer Tapalovic kamen stets prima miteinander aus.
Zumindest Neuer und Tapalovic haben zuletzt ein atmosphärisch manchmal schwieriges Jahr bei den Bayern erlebt, das zeigte sich auch im Tor: Salihamidzic hatte Nübel angeblich mit einem Einsatzversprechen nach München gelockt. Dieses war jedoch nicht einzuhalten, weil Hansi Flick konsequent auf den fitten Neuer setzte. Das befeuerte den Zwist zwischen Salihamidzic und dem ehemaligen Coach Flick, der nicht mehr zu kitten war. Der neue Bayern-Trainer Julian Nagelsmann wird das Thema zu seinem Arbeitsstart am 1. Juli nun vom Tisch haben.
