Süddeutsche Zeitung

Probleme beim FC Bayern:Mehr als nur ein Lackschaden

  • Der FC Bayern verliert nach dem 1:2 gegen Leverkusen auch in Gladbach und rutscht auf Rang sieben ab.
  • Die Leistungen sind zweimal gut - aber die Ergebnisse stimmen nicht.
  • Neben Pech sieht man aber immer mehr, dass einige Akteure der Münchner nicht oder nicht mehr auf dem allerhöchsten Niveau agieren.

Von Philipp Selldorf, Mönchengladbach

Schiedsrichter Marco Fritz brauchte nicht um Leib und Leben zu fürchten, als er gleich nach dem Schlusspfiff Besuch von einem halben Dutzend schnaufend herbeigeeilter Bayern-Spieler bekam. Aber er brauchte auch nicht die Illusion zu haben, dass sich die Münchner Profis bei ihm für die korrekte Spielleitung bedanken wollten. Fritz bewahrte mannhaft die stramme Haltung, während unter anderen Manuel Neuer, Thiago, Thomas Müller und Robert Lewandowski auf ihn einredeten, es wurde gestikuliert, argumentiert und geschimpft, bis der Protestbewegung die Luft ausging und Fritz unversehrt den Gang in die Kabine antreten konnte.

Nein, kein Bayern-Spieler hat behauptet, der Schiedsrichter trage die Schuld daran, dass beim 1:2 in Mönchengladbach wieder ein Spiel verloren ging, das nächste nach dem 1:2 gegen Leverkusen in der Woche zuvor. Man klagte über die Kürze der Nachspielzeit und vermutlich noch über dieses und jenes, aber vor allem ging es wohl darum, bei irgendjemandem den Ärger über die Niederlage abzuladen. Worüber sich jedenfalls niemand beschwert hat: über den Elfmeter, der den Borussen in der Nachspielzeit das 2:1 bescherte.

Während Neuer im weiteren Verlauf des aufsehenerregenden Nachmittags von einem "dummen Foul" sprach und Müller von einem "unnötigen" Strafstoß, "bei dem wir selber mitgeholfen haben", stellte Joshua Kimmich mit eisigem Unterton fest, er habe selten "einen klareren Elfmeter gesehen". Der Nationalspieler war ein glaubwürdiger Zeuge: Er stand daneben, als Javi Martínez mit Urgewalt dem Gladbacher Angreifer Marcus Thuram in die Parade fuhr und dabei zwar den Ball traf, aber in erster Linie den Gegenspieler abräumte wie alle Neune beim Kegeln.

Es reicht nicht für Souveränität

Kimmich brauchte nicht den Entscheid des Schiedsrichters abzuwarten, er bekam schon vorher einen Wutanfall über diesen missratenen Noteinsatz in einem Moment, in dem gar keine Not herrschte. Er könnte "durchdrehen", bekannte Kimmich. Wegen des Elfmeters und des übereifrigen Mitspielers Martínez im Speziellen und wegen der allmählich gründlich verunglückten Situation im Allgemeinen.

Der aktuelle deutsche Meister nimmt nach der vierten Saisonniederlage Rang sieben in der Tabelle ein, ein Platz, der nicht mal mehr zur Teilnahme am Intertoto- respektive UI-Cup berechtigt, denn diese schönen Wettbewerbe hat die Uefa leider abgeschafft. "Wir müssen jetzt Punkte holen, sonst wird's schattig", befand Müller nach einem Spiel, in dem seine Elf paradoxerweise über weite Strecken wie der logische Champion der Liga ausgesehen hatte. Die Bayern hätten wieder bewiesen, dass sie schlechthin alle Varianten beherrschten, um einen Gegner zu dominieren, sagte Borussia-Trainer Marco Rose.

Was er höflicherweise nicht sagte: dass dem hochverehrten FC Bayern ein Kernelement seiner Kunst abhandengekommen ist. Aus ihrer Überlegenheit und der Übermacht an Klasse gewinnen die Münchner keinen Ertrag mehr. Wie gegen Leverkusen habe es "viel Positives" gegeben, informierte Müller wahrheitsgetreu - "aber unterm Strich steht viel Negatives".

Man sah später viele düstere Blicke in den Gängen, als die Münchner Gesellschaft sich zur Abfahrt rüstete. Mit beleidigten Mienen verließen die Spitzenfunktionäre das Haus, sie sahen aus, als hätten Halbwüchsige ihre Limousinen zerkratzt, aber den Herren dürfte schon klar sein, dass es inzwischen mehr als ein Lackschaden ist, mit dem sich die Konzernzentrale auseinandersetzen muss. Es hatte ja in diesem Spiel nicht nur den glanzvollen, vielfältig inspirierten Auftritt bis zum überfälligen 1:0 durch Ivan Perisic gegeben (49. Minute), es folgte auch die Phase nach dem Treffer, in dem die Münchner die Kontrolle über das Geschehen einbüßten.

Ob das am nachlassenden Einsatz oder am Erwachen des Gegners lag, wird kein Kriminalkommissar jemals ermitteln. Aber in den Sequenzen, in denen die Partie kippte, wurden auch wieder die Schwächen deutlich, die dieses Team im Umbruchszustand kennzeichnen: Irgendwo ist immer ein limitierender Faktor. Dass sich dabei die Blicke auf die beiden Innenverteidiger Jérôme Boateng und Javi Martínez richten, ist in Anbetracht der Verdienste dieser ehrenwerten Alt-Bayern nicht nett, aber unvermeidlich. Boateng machte Martínez nach 67 Minuten wegen einer schon zur Pause angesprochenen Muskelblessur Platz, zu spät, wie gesagt werden muss. Es gab mehrere Szenen, in denen der Eindruck entstand, dass ein Duell mit dem 22-jährigen Spitzenathleten Marcus Thuram für Boateng, 31, eine unfaire Herausforderung darstellt. Dass für den gleichaltrigen Martínez Ähnliches gilt, erwies sich nicht nur beim Elfmeterfoul.

Der FC Bayern verfügt Ende 2019 über eine Mannschaft, die nicht mehr oder noch nicht wieder den Ansprüchen der Luxusklasse genügt. Es gibt ältere Spieler, die das höchste Niveau nicht mehr halten können, und jüngere, die ihm noch nicht dauerhaft standhalten. In der Summe reicht das nicht zur Souveränität. Der 19-jährige Linksverteidiger Alphonso Davies etwa war einer der besten Münchner, doch auf seinen rasenden Tempoläufen von der einen zur anderen Grundlinie fehlen ihm Übersicht und Präzision. Auf ihn trifft zu, was Neuer über den gesamten Auftritt sagte: "Viel machen wir nicht falsch, aber das reicht, um die Spiele nicht zu gewinnen."

Zuletzt hatte man an der Säbener Straße geglaubt, die Lage wenn nicht bereinigt, so doch hinreichend beruhigt zu haben, indem man die zermürbende Trainer-Frage klärte. Mit Hansi Flick, so lauteten in den vergangenen Wochen die Botschaften der maßgeblich Beteiligten, werde wieder Fußball nach dem zeitgemäßen Lehrbuch gespielt. Nun befindet sich der Klub mehr oder weniger wieder an dem Punkt, an dem er mit Niko Kovac stehen geblieben war. Die Trainerfrage ist abermals allgegenwärtig, Hansi Flick vermochte vor der Abreise vom Niederrhein nur Folgendes zu versprechen: "Wir werden uns weiterhin gut vorbereiten", es gebe ja noch drei Bundesliga-Spiele, "wo einiges von uns erwartet wird". Das Publikum hat schon mal mehr wilde Entschlossenheit vom Bayern-Podium vernommen.

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Quelle:
SZ vom 09.12.2019/schm
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