Der Gedanke liegt nahe bei diesem Trainer, er hat ja eine strenge Attitüde. Ob er also ein Trainer sei, der junge Höhenflieger aus erzieherischen Gründen bremse, fragte Markus Hörwick, der Medienchef des FC Bayern. "Nein", entgegnete Louis van Gaal, "ich bringe junge Spieler rein! Und wenn sie gut spielen, dürfen sie ihren Weg weitergehen." Thomas Müller, 19, saß ehrfürchtig daneben. Er war von der Turnierjury zum "Spieler des Spiels" gekürt worden nach dem 4:1- Halbfinalsieg des FC Bayern im Audi-Cup gegen den AC Mailand, nicht Ronaldinho, nicht Gomez, nicht sonst ein Berühmter. Müller, der zwei Tore schoss und dessen Name bisher nicht zum Fußball-Pflichtwissen gehörte, wurde aufs Podium gebeten - und erzählte artig von taktischen "Fortschritten der Mannschaft. Wir haben gut gegen den Ball gearbeitet". Sagte Müller, der Mittelstürmer.
Ob Spielstil, Aufstellung oder Teamhierarchie - kurz vor Saisonbeginn zeichnet sich ziemlich klar ab, wie Louis van Gaal sich den neuen FC Bayern vorstellt. Zwar war die übermüdete Mailänder Altmännerelf - nach München direkt eingeflogen von einer USA-Tournee - kein Gradmesser. Doch taktische Grundrisse sind bereits erkennbar. Van Gaal strebt totale Spielkontrolle an, einerseits durch frühen Ballraub, andererseits: durch Ballbesitz. Wie Magath für Wallbergläufe stand und Hitzfeld für die Rotation, so sollen bei van Gaal Präzisionspässe das Markenzeichen sein. Mit und ohne Ball wirkt Bayern nach nur vier Wochen Holland-Schule organisierter als zuletzt. Offensive mit Kalkül ist nun das Lernziel, man habe "geduldig" angegriffen gegen Mailand, hob van Gaal hervor, er sah lange Passfolgen - ohne jene zerstörerischen Ballverluste im Mittelfeld, die in der Vorsaison die Gegner vergnügt für Konter nutzten.
Es gibt auch neue individuelle Impulse, wie den giftigen Daniel Pranjic links, der stramme Flanken schlägt wie seit Jahren kein Bayer mehr. Oder Mario Gomez, der beweglich am Kombinationsspiel teilnimmt, wie es van Gaal von Stürmern erwartet. In erster Linie aber zeigt Bayern in erkennbaren Ansätzen: Trainerfußball. Van Gaal will nicht nur gewinnen, weil Ribéry mit Soloeinlagen die Dinge regelt. Er will Stärke aus der Gruppe heraus, aus hochtourigem Kampf wie gegen Mailand. Und Disziplin: "Jeder weiß genau, welche Aufgaben er auf seiner Position hat", sagte Jörg Butt. Der weiß seinerseits, dass er sich nicht viele Patzer wie bei Milans 1:2 erlauben sollte, sonst könnte ihm Michael Rensing den Platz im Tor noch abluchsen.
Ohne Rücksicht auf Namen
Genaues Positionsspiel kennzeichnet Van-Gaal-Teams, er lässt die Leute nicht pausenlos rochieren wie beim voetbal totaal der siebziger Jahre. Und ein teurer Mann wie Anatoli Timoschtschuk kann schnell mal auf der Bank sitzen - weil Hamit Altintop die Aufgaben halbrechts in der Raute sorgfältiger erledigt als der aus St.Petersburg geholte Ukrainer, den es bei Trainingsspielen zuletzt oft instinktiv in die Mitte zog, wo er sich am wohlsten fühlt ("ich spielte bisher meistens Sechser"); das missfiel van Gaal hörbar. Es ist aber auch möglich, dass Timoschtschuk bald wieder in die erste Elf rutscht; oder dass Demichelis van Buyten aus der Viererkette drängt. Und gewiss werden die verletzten oder kranken Angriffsgrößen (Ribéry, Olic, Klose) aktuelle junge Statthalter wie Müller, Sosa oder Baumjohann beizeiten ersetzen. Doch generell stellt van Gaal nicht nach Namen auf, sondern nur danach, wer zur Ausrichtung des Kollektivs gerade am besten passt.
Das eröffnet auch Talenten unerwartete Perspektiven. Holger Badstuber, 20, hat sich einen Platz in der Verteidigung erstritten, durch Ruhe in bedrohlichen Lagen, gute Kopfbälle, Schnelligkeit. Auch Thomas Müller könnte im Pokal gegen Neckarelz am kommenden Sonntag im Team bleiben, er erfährt hohe Wertschätzung bei van Gaal, auch weil er vielseitig einsetzbar ist, das schätzt der Trainer. Müller kann anstelle des verletzten Ribéry hinter den Spitzen spielen. Oder im Sturm. Dort, lobt van Gaal, sei der hagere, schon recht abgeklärt auftretende Junior "ein Anspielpunkt, und er schießt auch Tore". Letzteres gelang am Mittwoch sogar Saer Sene, 22, einem französischen Stürmer, der in der Jugend bei Paris St.Germain war und soeben von Sonnenhof Großaspach zu Bayern II gewechselt ist.
Van Gaals harte, direkte Ansprache findet Anklang im Team. Van Buyten frotzelte, im Vorjahr habe es "unter der Woche nur Lob" gegeben, "und am Wochenende Ohrfeigen"; jetzt soll es umgekehrt sein. Doch ob man vor Ohrfeigen der Gegner gefeit ist, werden erst die nächsten Monate zeigen. Halten Badstubers, Müllers und aus der Nische geholte Neue wie der bisher wacklige Linksverteidiger Braafheid hohem Wettkampfdruck stand? Genügt gutes Pressing vorne, um diese Bayern-Abwehr vor Schaden zu bewahren? Wie gelingt die Re-Integration von Ribéry und Toni? Entscheidende, offene Fragen.
Geistige Präsenz gefragt
In der Kapitänsfrage deutet alles auf Mark van Bommel hin. Er erfüllt das niederländische Ideal eines Dirigenten, der alle Kollegen auf dem Rasen anleitet, weil er das Spiel in seinen taktischen Tiefen erfasst. Van Bommel gehört zu jenen Menschen, die im Restaurant aus Kaffeesahnedöschen 4-4-2-Modelle bauen. Van Gaal mag das, ihm genügt nicht, wenn Anweisungen nur erfüllt werden. Er will, erzählte einmal sein Ajax-Assistent Gerard van der Lem, dass "jeder Spieler die Geometrie des ganzen Platzes begreift: Wie muss das Tempo des Balles sein? Wo gibt es Raum? Wo ist der Spieler, der die meiste Zeit hat, der sollte den Ball kriegen!?"
Gedankliche Präsenz fordert van Gaal auch von Journalisten. Am Mittwoch insistierte einer, warum der - verletzte - Luca Toni nicht mitspielen durfte gegen seine Landsleute. Van Gaal schaute, als wolle er den Fragesteller fressen und untersagte sogar dem Pressechef Aufklärung: "Nicht erklären, das muss er selber wissen", raunte van Gaal. Dann erhob er sich erbost. Und ging.