Süddeutsche Zeitung

FC Bayern:"Man kann den Sieg ruhig dreckig nennen"

Lokomotive Moskau stellt den FC Bayern vor fast schon ungewohnte Probleme. Beim 2:1-Sieg versäumt es die Elf, Kraft für kommende Aufgaben zu sparen. Trainer Flick beklagt "unnötige Meter".

Von Christof Kneer

Es dürfte nicht für einen Oscar reichen und womöglich auch nicht für eine Nominierung, aber für eine Einstiegsszene in einen soliden Thriller war sie durchaus tauglich: diese einigermaßen gruselige Schleuse, durch die die Spieler des FC Bayern vor der Partie bei Lokomotive Moskau hindurch mussten. Die Schleuse sah ein bisschen aus wie eine von einem dunklen Planeten entliehene Duschkabine, jeder Bayern-Spieler musste einzeln eintreten und dabei ein Geräusch über sich ergehen lassen, für das man einen Wecker an die Wand werfen würde. Offenbar sollte die Prozedur der Desinfizierung dienen, auch Moskau gilt als Corona-Hotspot, und somit war das Thema schon vor dem Spiel gesetzt: Unter recht grotesken Umständen starteten die Bayern in das zweite Gruppenspiel der aktuellen Champions-League-Kampagne. Von der ziemlich großen Stadt, die die RZD-Arena umgibt, bekamen die Münchner kaum etwas mit, sie blieben in ihrer Flughafen-Hotel-Stadion-Flughafen-Blase, und sie nutzten die frühe Anstoßzeit, um direkt nach der Partie nach München zurückzufliegen.

Im Gepäck hatten sie, was unter diesen Bedingungen vielleicht sogar zu erwarten war: einen mühsamen, bis zum letzten Moment zittrigen 2:1-Erfolg, der den Rest der Welt und womöglich sogar die Bewohner von entfernten dunklen Planeten etwas aufatmen lassen dürfte. Denn die unzerstörbaren Bayern wirkten irdisch an diesem Abend, und wenn man das Gute im Gepäck suchen möchte, dann findet man dies: dass die Bayern gerade dabei sind, etwas Neues zu lernen. Sie lernen, dass man nicht in jeder Partie einen Oscar gewinnen muss, dass man sich nicht immer an sich selbst berauschen, sondern auch mal Kräfte dosieren und vielleicht sogar Schwächephasen überstehen muss, um den großen Trophäen wieder nahe zu kommen.

"Man kann den Sieg ruhig dreckig nennen", sagte Trainer Hansi Flick nach der Partie, "man hat halt auch mal solche Spiele, und dann ist es umso schöner, wenn an sie gewinnt." Natürlich führt der Titelverteidiger seine Vorrundengruppe jetzt schon wieder an, mit zwei Siegen nach zwei Spielen. Und nächste Woche geht es in diesem Wettbewerb schon wieder weiter, dann aber möglicherweise ohne Flugreise. Die Bayern spielen dann bei RB Salzburg.

Wer den äußerlich so stillen Flick kennt, der weiß, dass es in diesem Trainer auch mal laut werden kann. So dürfte Flick in der zweiten Hälfte durchaus gegrummelt haben, Schlampereien mag er nicht so besonders. Flick war früher ein defensiver Mittelfeldspieler, als solcher legt er großen Wert darauf, dass das Zentrum seiner Elf stabil ist - und eben nicht so offen wie in der Mitte der zweiten Halbzeit, als man mehrere großformatige Duschkabinen durchs Bayern-Mittelfeld hätte rollen können. "Wir können das besser", sagte Flick, wieder milde gestimmt durch das späte Tor von Joshua Kimmich (79.), das nach der Führung durch Leon Goretzka (13.) und dem Ausgleich durch Anton Mirantschuk (70.) am Ende zum Sieg reichte.

Wie sein Team, so ist ja auch Flick gerade dabei, dazuzulernen, er hat seine Art des Coachings inzwischen verändert. Als er den unsortierten Bayern-Laden vor einem Jahr übernahm, hat er erst mal die Rotation abgeschafft, er hat meist dieselbe Elf aufs Feld geschickt und so jene Automatismen geschärft, von der die Elf monatelang profitieren sollte, bis zum Champions-League-Turnier in Lissabon. Auf diese Weise hat Flick eine Achse gegossen, die verlässlich funktioniert, weshalb er nun drumrum auch mal rotieren kann. An diesem Abend kam beim Rotieren eine Elf heraus, die einem schon bekannt vorkam: Es war dieselbe Elf, die vor einer Woche mit einem imposanten 4:0 gegen Atlético Madrid in die Champions League gestartet war.

Große Fußballer haben die Angewohnheit, sich am liebsten von anderen großen Fußballern zu großen Leistungen inspirieren zu lassen, Fußballer machen manchmal unbewusst Unterschiede zwischen Atlético und Lokomotive. Die Bayern sind unter Flick eigentlich nicht anfällig für solche Flausen, aber an diesem Abend fiel es ihnen doch erkennbar schwer, gegen den Außenseiter auf Betriebstemperatur zu kommen. "Fast aus dem Nichts" sei man dann zur Führung gekommen, räumte Kimmich später ohne schlechtes Gewissen ein, aber ein bisschen was durften sich die Bayern ja doch einbilden auf ihr 1:0. Es folgte einem einstudierten Spielmuster: Corentin Tolisso verlagerte den Ball aus dem Zentrum hinaus auf den Flügel, wo Verteidiger Benjamin Pavard den Ball schon erwartete und ohne schuldhaftes Zögern volley nach innen flankte - wo Goretzka den Ball ebenfalls schon erwartete und ins Tor köpfte.

Es hätte also genau das Spiel werden können, das die Bayern gebraucht hätten: ein frühes Tor, ein entspannter Sieg und dann ein bisschen Auslaufen. Drei Auswärtstouren stehen nun ja an, es geht nach Köln, Salzburg und Dortmund, und auf Reisen hilft erfahrungsgemäß jeder Meter, den man zuvor sparen konnte. "Unnötige Meter" habe man in der zweiten Hälfte laufen müssen, sagte Flick. Vor allem nach Mirantschuks Kontertor zum 1:1 mussten sich die Bayern noch mal quälen, nachdem sie zuvor schon einige Chancen zum 2:0 vergeben hatten; einmal wurde ein Elfmeter für Lewandowski nach vorheriger Abseitsstellung zurückgenommen, ein andermal scheiterte Kimmich aus vier Metern.

"Ein bisschen peinlich" sei das gewesen, sagte Kimmich später, aber auch er war milde gestimmt. Er kannte ja den Spieler persönlich, der später noch das Siegtor erzielte.

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Quelle:
SZ vom 28.10.2020/schm
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