Süddeutsche Zeitung

Bundesliga:Der ganze Katalog der Münchner Gebote

Der FC Bayern bestätigt nach wackligen Wochen zum Jahresabschluss in Leverkusen seinen Superhelden-Nimbus. Im späten Siegtor konzentriert sich das Wesen des Klubs.

Von Philipp Selldorf, Leverkusen

Die Fußball-Welt würde jetzt ein bisschen anders denken über den FC Bayern, wenn Moussa Diaby kurz vor Anbruch der Nachspielzeit noch ein letztes Mal alle Sinne und Kräfte hätte zusammenführen können. Dann wäre es ihm womöglich nicht nur gelungen, in Blitzgeschwindigkeit die rechte Außenlinie entlang zu rennen und den Ball irgendwie scharf vor das Münchner Tor zu bringen. Dann hätte er es vielleicht auch noch geschafft, den Kopf hochzunehmen, den Mitspieler Lucas Alario zu sehen und die Flanke auf ihn abzustimmen. Kopfball, Tor, 2:1 für Bayer 04 - so hätte es ausgehen können.

Es kam dann aber so, wie es die Welt vom FC Bayern kennt und erwartet. Der Meister aller Klassen im laufenden Kalenderjahr sprach das letzte Wort anno 2020, indem er in der allerletzten Minute seinen Scharfschützen mit dem Siegtor beauftragte: Weltfußballer Robert Lewandowski zögerte nicht, nachdem er den schnellen, kurzen Pass eines gewissen Joshua Kimmich erhalten hatte. Er zog davon und schoss, und als der Ball das Bein des Verteidigers Edmond Tapsoba traf, gingen in den angeschlossenen Wohnzimmern gleichermaßen Wünsche und Verwünschungen in Erfüllung: Die einen jubelten, weil Tapsobas Bein den Schuss entscheidend abfälschte, die anderen riefen "Dusel-Bayern" und andere Flüche - wie üblich teilten sich die Lager in Freunde und Feinde.

Für die Beteiligten aber war dieses Tor eine Besonderheit. Nicht, weil dadurch die Usurpatoren aus Leverkusen doch noch 2:1 besiegt wurden und den ersten Tabellenplatz wieder hergeben mussten, sondern weil dieser späte Treffer so charakteristisch war für das höchst außergewöhnliche Jahr. In dieser letzten Szene konzentrierte sich das ganze Sein und Wesen des FC Bayern: Auch in der Schlussminute nochmal hin- und draufgehen, den letzten Rest der Chance suchen, den Sieg erzwingen und so weiter - der ganze Katalog der Münchner Gebote.

So sah auch der Jubel besonders aus. Die Bank-Besatzung hüpfte in wilder Ekstase umeinander, Manuel Neuer legte einen 50-Meter-Sprint hin, um an der Party teilzunehmen. Nach dem Abpfiff stimmten mindestens 40 Spieler und Betreuer gleichzeitig ein so lautes Jaaaaaaaaa!!!! an, dass es fast obszön klang. So glücklich hatte man die Bayern zuletzt gesehen, nachdem sie im August Paris im Endspiel um die Champions League besiegten. Hansi Flick wurde sogar pathetisch: "Die Arbeit mit dieser Mannschaft macht uns Trainern so viel Spaß, dass ich für jeden Tag und jede Stunde einfach dankbar bin."

Aber was hätte der Rest der Welt gesagt, wenn statt Lewandowski für die Bayern Alario für Bayer getroffen hätte? Vier Punkte Vorsprung hätten die erstplatzierten Leverkusener dann gehabt, und die Bayern-Kritiker hätten bis ins nächste Jahr hinein behaupten können, dass es jetzt eben doch mal vorbei sei mit diesem Superhelden-Nimbus, denn diese Niederlage wäre ja nur die logische Folge eines Niedergangs gewesen: Unentschieden gegen Bremen und Berlin, so viele Gegentore wie ein Mittelklasse-Team, und zuletzt das Phänomen, dass es inzwischen Normalzustand ist, wenn der FC Bayern in Rückstand ist.

Am Samstagabend ging Bayer 04 nach 14 Minuten in Führung. Patrick Schicks Tor war so schön, dass sogar Lewandowski hätte eifersüchtig werden können. Aber Lewandowski durfte sich damit trösten, dass ihm die Leverkusener nach den Blumen und dem Champagner für die Auszeichnung zum weltbesten Fußballer auch noch die Gelegenheit zum Ausgleichstor schenkten: Lukas Hradecky und Jonathan Tah stritten sich um den Ball, Lewandowski war der lachende Dritte. Dieses Tor zum 1:1 (45.+1) hatten die Bayern mitnichten brillant herausgespielt und erzwungen, sie waren bloß zur Stelle, als es ihnen der Gegner offerierte.

Wochenlang hatten die Leverkusener der Akkordarbeit in Liga und Europacup standgehalten, indem sie ihren Lauf fröhlich fortsetzten, und auch am Samstag waren sie bestens gestartet: Konzentriert und beherrscht in der Deckung, zupackend in der Offensive, das 2:0 lag zwei-, dreimal in Reichweite. Zwar standen Diaby und Leon Bailey weitgehend bei ihren Gegenspielern Süle und Davies unter Kontrolle, aber Florian Wirtz und Nadiem Amiri schufen Vorteile im Zentrum. Auf Dauer erwies sich die Konstruktion dennoch als instabil, ohne die Entlastung durch Flügelangriffe ergab das Bayer-Spiel kein rundes Ganzes mehr. Es häuften sich nicht nur die Abspielfehler, sondern auch die Ermüdungserscheinungen, in der zweiten Hälfte hatten die Bayern die größeren Reserven zu bieten - nicht zuletzt den Rückkehrer Kimmich, der sich fünf Wochen nach seiner Verletzung zurückmeldete. Ein "Auf und Ab" sei es gewesen, "geht er mit?, geht er nicht mit?", erzählte Flick. Schließlich habe Kimmich entschieden mitzufahren. Resultat: Die Vorlage zum Siegtor.

Bayer kam den Bayern nahe, "sie konnten uns verwunden", wie Thomas Müller anerkannte, aber den entscheidenden Hieb setzten wieder die Münchner. Mag auf ihrer Seite ein wenig Dusel im Spiel gewesen sein, auf Leverkusener Seite war nicht bloß das Pech verantwortlich: Tah war durch seine missglückte Ballannahme auch beim 2:1 den Bayern behilflich wie ein Vorlagengeber. Zwei schlimme Momente verfinsterten seinen ansonsten tadellosen Auftritt. Trainer Peter Bosz klang später wie ein gebrochener Mann: "Ich glaube, dass wir das nicht verdient haben", seufzte er.

"Heute hatten wir das bessere Ende", sagte Hansi Flick, bevor er sich mit besten Weihnachtsgrüßen verabschiedete. Es ist ein Satz, der ziemlich präzise das Münchner Jahr 2020 beschreibt.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5154102
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.