Süddeutsche Zeitung

FC Bayern:Unbestritten Klassenbester

Für kurze Zeit nervt Leverkusen die Münchner - doch dann erlangen sie ihre Mechanik der Kontrolle zurück. Das Resultat drückt die Überlegenheit nur unzureichend aus.

Von Philipp Selldorf, Leverkusen

Als Kai Havertz am Samstagmittag in seinem Auto das Gelände am Leverkusener Stadion verließ, staunten die Passanten. Fuhr Havertz nicht in die falsche Richtung? Sollte er nicht gleich beim Spiel zwischen Bayer Leverkusen und Bayern München eine der Hauptrollen besetzen? So hatten das alle erwartet, aber Kai Havertz war nicht imstande, die Erwartungen zu erfüllen. Autofahren konnte er zwar, doch Fußballspielen konnte er nicht, das geprellte Knie schmerzte. Havertz kam zwar wieder zurück - aber nur als Zuschauer. Bayer musste gegen die Bayern ohne seinen sogenannten Unterschiedsspieler auskommen. Der saß schließlich mit Mundschutz auf der Tribüne.

Leverkusens Trainer Peter Bosz antwortete auf diese Herausforderung mit einer ehrenwerten, aber gewagten Offensivtaktik und einem Großeinsatz seines Personals, 16 Spieler setzte er im Laufe der 94 Spielminuten ein - den üblichen Lauf der Dinge vermochte er trotzdem nicht abzuwenden. Auch die BayArena verließen die Bayern im gewohnten Bewusstsein ihrer Überlegenheit als unbestrittener Klassenbester: 4:2 gewannen sie, das Spielgeschehen war eindeutiger, als das Resultat erkennen lässt. Nach einer halben Stunde, beim Zwischenstand von 1:1, habe es "vielleicht so ausgesehen, als ob wir mithalten könnten", sagte Bosz später. Doch schon zu diesem Zeitpunkt sah er das böse Ende kommen: "Wenn man Bayern schlagen will, dann muss man mutig sein. Aber das waren wir nicht. Wir haben zu schnell den Ball weggegeben."

Bis Serge Gnabry und Leon Goretzka kurz vor der Pause mit einem Doppelschlag die 3:1-Führung besorgten, ließ die Partie zumindest Raum für die Fantasie, dass der Favorit ausnahmsweise das Nachsehen haben könnte. Bayer hatte die Münchner während der ersten Viertelstunde immerhin so effektvoll unter Druck setzen können, dass sie nicht dazu kamen, ihr souveränes Pass-Spiel zu inszenieren. Leverkusen verstopfte mit intensivem Pressing die Lieferwege, und es gab auf Seiten des Tabellenführers außergewöhnlich irdische Momente zu bestaunen: Robert Lewandowski bekam nicht die Freistöße, die er reklamierte, Coman wurde bei einer Schwalbe ertappt, Manuel Neuer wusste nicht, wohin mit dem Ball, Fehlpässe im Aufbau blockierten den Spielfluss.

Nach einer Viertelstunde geriet Leverkusen unter Stress und machte Fehler

"Wir haben etwas Zeit gebraucht und mussten uns ab und zu überwinden, um ins Spiel zu kommen", sagte Hansi Flick. Den Ärger über das Misslingen bekam vor allem Schiedsrichter Manuel Gräfe zu spüren. Der Trainer machte sich mit erbosten Zwischenrufen überraschend deutlich bemerkbar, und die Bayern-Bank ersetzte mit ihren ständigen lautstarken Beschwerden über Gräfes Entscheidungen das abwesende Publikum. Der Spielstand trug auch nicht zur Beruhigung bei: Lucas Alario, der Mittelstürmer, hatte die Hausherren nach neun Minuten in Führung gebracht.

Bosz behielt jedoch recht, als er das Unheil heranziehen sah. Nach einer Viertelstunde hatten die Bayern die Mechanik ihrer Ballsicherheit wiederhergestellt, Leverkusen geriet unter Stress und machte Fehler. Der Ausgleichstreffer von Coman in der 27. Minute ging zwar von einem Ballverlust des Leverkuseners Diaby aus, aber er war das Resultat des nun wieder konsequenten und konzertierten Münchner Zweikampfverhaltens. Goretzka leitete den im Mittelfeld gewonnenen Ball geradewegs zu Coman, der unaufhaltsam davonzog und platziert ins Eck traf. Mit dem 1:1 hätten die Leverkusener zur Pause gut leben können, doch dann geschah, was "gegen so eine Klassemannschaft niemals passieren darf", wie Bosz beklagte. Das 2:1 durch Goretzka, der ein starkes Spiel machte, fiel nach einem generalstabsmäßig angelegten Konter über ein halbes Dutzend Stationen, der auf eine gegnerische Ecke folgte. Dabei machte auch der ansonsten gute Torwart Hradecky keine gute Figur. Beim 3:1 rückte die gesamte Leverkusener Deckung ohne Sinn und Verstand bis zur Mittellinie auf und öffnete damit den Raum für einen langen Pass, in den Gnabry mit Vergnügen hineinlief.

Leverkusens Wirtz ist nun jüngster Bundesliga-Torschütze der Geschichte

Im Grunde war das Spiel damit entschieden, der Rest der Partie glich mehr oder weniger einem gepflegten Trainingsspiel. Die Bayern ließen sich nicht zum Leichtsinn verführen, Bayer entwickelte nicht die Kraft und die Mittel für ein Aufbäumen. So konnte sich Robert Lewandowski durch das Kopfballtor zum 4:1 noch die Genugtuung verschaffen für den Ärger über die fünfte Gelbe Karte, die ihm Gräfe während der ersten Halbzeit gezeigt hatte, und kurz vor Schluss durfte der zur Pause eingewechselte Florian Wirtz noch ein wenig Geschichte schreiben. Beim Treffer zum 2:4 versetzte der vor wenigen Wochen 17 Jahre alt gewordene Nachwuchsspieler zwei Weltmeister auf einmal: Verteidiger Lucas Hernandez und Torwart Neuer. Wirtz ist damit jüngster Bundesliga-Torschütze der Geschichte.

Den Bayern war dieses schöne Tor sogar ein anerkennendes Schulterklopfen wert. Längst hatten sie einen Haken hinter die Partie gemacht. Dass außer Lewandowski auch Thomas Müller beim nächsten Punktspiel gegen Borussia Mönchengladbach wegen einer Kartensperre fehlen wird, bereitet Flick keine Sorgen: "Wir werden dann zwei andere Spieler auf diesen Positionen sehen, das ist auch mal gut."

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