Süddeutsche Zeitung

4:1 in Leipzig:Bayern siegt mit brutalstmöglich kühlem Kopf

Bei Julian Nagelsmanns Rückkehr nach Leipzig sezieren die Bayern die Abwehr des Gegners eiskalt. Das 4:1 bildet die aktuellen Machtverhältnisse zwischen dem ewigen Titelverteidiger und dem Herausforderer gut ab.

Von Christof Kneer, Leipzig

Die große Frage vor diesem großen Spiel blieb auch hinterher unbeantwortet. War es ein Vorteil für den FC Bayern, dass Trainer Julian Nagelsmann kürzlich noch in Diensten des Gegners RB Leipzig stand und somit nicht nur jeden Laufweg in den Katakomben des Stadions, sondern auch die meisten Laufwege auf dem Rasen kennt? Oder würde endlich mal das noch sehr junge RB profitieren in diesem historisch ungleichen Duell - weil sie in Leipzig ja genau wissen, wie Münchens neuer Trainer Nagelsmann den Fußball denkt und sieht?

Das Ergebnis - ein durchaus spektakuläres 4:1 (1:0) für den FC Bayern - hatte dann aber weniger mit Kabinengeheimnissen und Taktikverrat zu tun. Es bildete die aktuellen Machtverhältnisse zwischen dem ewigen Titelverteidiger und dem neuesten Herausforderer ab, wobei sich die Leipziger nun erstmal damit trösten müssen, dass ihre Leistung im Bundesliga-Topspiel vielversprechender war als ihr insgesamt misslungener Saisonstart.

Sein Team habe "nicht schlecht gespielt", sagte RB-Coach Jesse Marsch bei Sky, "die Gruppe hat alles gegeben. Mit ein wenig mehr Spielglück kann es anders aussehen." Nagelsmann entgegnete verschmitzt: "Ich habe mich immer wohl gefühlt hier im Stadion, auch heute." Mit Blick auf das klare Ergebnis fügte er an: "Wir waren nicht so viel besser. Wir können sicherlich besser spielen."

Begonnen hatte die Partie wenig rätselhaft, sie nahm exakt den Verlauf, den die Experten prophezeit hatten. Praktischerweise war RB Leipzig noch nicht gegründet, als die TV-Kommentatoren die ersten 15 Minuten eines Spiels reflexhaft "die Abtastphase" nannten, so etwas kennen sie in Leipzig gar nicht - erst recht nicht, seit Jesse Marsch als Coach bei RB amtiert, ein Trainer, der die amerikanische Sportkultur repräsentiert, in der keinerlei Abtastphasen vorkommen. RB nahm den Anpfiff als Anlass, schnell und intensiv nach vorne zu spielen, aber ein Überfall, den der Gegner erwartet, ist nur noch halb so wirkungsvoll.

Leipzig gelingt es zu selten, die Bayern-Abwehr in ernsthafte Turbulenzen zu stürzen

Die Bayern sahen dem Rivalen bei seinen Überfallversuchen zu, sie lockten und lauerten, um mögliche Leipziger Ballverluste selbst zur zügigen Gegenattacke zu nutzen. Zur Münchner Sportkultur gehören bekanntlich Effizienz, Cleverness und das, was der Ex-Trainer Ottmar Hitzfeld einmal "Schlachtenglück" nannte, und so überraschte es keinen Experten, was in der 12. Minute geschah. Leipzigs Kevin Kampl kam den Bayern hilfreich entgegen, indem er den Ball im eigenen Strafraum mit dem Oberarm mitnahm - was Schiedsrichter Aytekin nach Konsultierung des Fernsehgerichts am Spielfeldrand für elfmeterwürdig erklärte. Eine Entscheidung, die, für sich betrachtet, keine größeren Debatten um einen möglichen Bayern-Bonus nach sich ziehen dürfte, anders als am ersten Spieltag, als den Gladbachern gegen Bayern zwei kaum diskutable Elfmeter verwehrt wurden; Diskussionsstoff dürfte allerdings auch an diesem Wochenende der Gegenschnitt zu einer Szene aus der dritten Spielminute liefern, als Thomas Müller an der Strafraumkante einen Ball mit leicht abgespreiztem Arm abblockte.

Das Schiedsgericht in Köln erkannte wohl keine unnatürliche Handbewegung - und sah keinen Grund, Schiedsrichter Aytekin einer klaren Fehlentscheidung zu überführen. In Robert Lewandowskis Sportkultur sind Fehlschüsse nicht vorgesehen, ebenso konzentriert wie lässig verwandelte er den Elfmeter zur frühen Münchner Führung - sein sechster Saisontreffer im vierten Bundesligaspiel.

Dieses Tor lenkte das Spiel in eine Richtung, die den Zuschauern bekannt vorkam. Die Leipziger arbeiteten sich ab, sie gaben sich Mühe, ein anständiger Herausforderer zu sein, und vor allem der Spanier Olmo wies mehrmals nach, dass sich seine Füße durchaus auf FC-Bayern-Niveau befinden - aber als Team gelang es den Gastgebern zu selten, die Bayern-Abwehr in ernsthafte Turbulenzen zu stürzen. Trainer Nagelsmann hatte sich entschieden, den vom DFB zurückgekehrten Niklas Süle auf der Bank zu lassen, an seiner Stelle durfte der Franzose Lucas Hernández den linken Innenverteidiger geben. Die Grundordnung, die Nagelsmann gewählt hatte, war dabei durchaus interessant: Der Dreierketten-Liebhaber präsentierte eine Art Dreieinhalberkette. Bei gegnerischem Ballbesitz bildeten Benjamin Pavard, Dayot Upamecano, Lucas Hernández und Alphonso Davies das gewohnte Viererbündnis, bei eigenem Ballbesitz büxte Davies nach vorne aus und ließ die Kollegen eine Art Dreierkette bilden.

Aufgeben? Herschenken? Gibt's bei Leipzig nicht

Zwar mögen es die Bayern nicht so sehr, wenn man ihnen ein wildes Spiel aufzwingt, sie haben die Dinge lieber unter Kontrolle und entscheiden selbst, wann es schnell und abenteuerlich wird. Nach der Pause zeigten sie aber, was es bedeutet, wenn mehrere Jahrhunderte an Wettkampfroutine zwischen ihnen und dem Gegner liegen. In jenem intensiven Hin und Her, in das sie die Leipziger verwickelten, behielten die Bayern zunächst einen brutalstmöglich kühlen Kopf: Eiskalt sezierten sie die Leipziger Abwehr, Pavards Pass fand am Flügel Davies, dessen Hereingabe der für den angeschlagenen Serge Gnabry ins Spiel gekommene Jamal Musiala ins Tor lenkte (47.). Sieben Minuten später chippte Musiala den Ball nach Lewandowskis Vorarbeit ins Zentrum, wo Sane dankbar verwertete (54.) - das sah nun spektakulär nach einer Vorentscheidung und vielleicht sogar nach einer Machtdemonstration des Rekordmeisters aus, zumal kurz zuvor ein vermeintlicher Anschlusstreffer des Leipzigers Silva wegen Abseits' zurecht aberkannt worden war (52.).

Normale Teams würden sich bei einer derartigen Spieldynamik die Frage stellen, ob sie es an diesem Tag nicht lieber gut sein lassen sollen; ob es nicht besser wäre, den Schaden in Grenzen zu halten, bevor diese unverschämten On-the-rocks-Bayern womöglich noch ein paar Treffer nachlegen. Aber die Leipziger sind nicht nur eine aus Fuschl am See alimentierte RB-Mannschaft, sie sind unter Jesse Marsch auch schon ein bisschen amerikanisch geworden. Aufgeben? Herschenken? Gibt's nicht. Vier Minuten später jagte der Österreicher Konrad Laimer den Ball mit Wucht und viel amerikanischem Optimismus aus 25 Metern ins Bayern-Tor - mit einem Dreifachwechsel (Forsberg, Haidara und Gvardiol kamen) versuchte Marsch die Welle weiterzureiten, während Nagelsmann mit dem Einsatz von Marcel Sabitzer konterte, der bis vorige Woche noch Leipziger war. Das Publikum pfiff Sabitzer aus, staunte aber gleichzeitig, weil Nagelsmann auch Lewandowski vom Feld nahm - womöglich, um ihm ein paar Kräfte fürs Spiel in Barcelona am Dienstagabend zu erhalten.

Was wohl passiert wäre, wenn RB-Angreifer Silva in der 64. Minute nicht knapp an einer Hereingabe von Nkunku vorbeigerutscht wäre? Dann hätte der amerikanische Coach womöglich noch an einen 6:3-Sieg geglaubt. Aber an diesem warmen sächsischen Spätsommerabend blieb die Logik bayerisch: Der eingewechselte Choupo-Moting schoss in der Nachspielzeit noch das 4:1.

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