Bundesliga:Der doppelte Kulturwandel des FC Bayern

Bundesliga: Muss bald die Kabine hinter sich bringen: Bayern-Trainer Niko Kovac.

Muss bald die Kabine hinter sich bringen: Bayern-Trainer Niko Kovac.

(Foto: Bongarts/Getty Images)
  • Der FC Bayern ist mit seinem Offensivspiel grundsätzlich zufrieden, hat aber zwei von drei Pflichtspielen in dieser Saison nicht gewinnen können.
  • Mit der Personalie Philippe Coutinho dürften die Münchner künftig die Ballbesitzorgien recyceln, die es einst unter Guardiola zu sehen gab.
  • Doch die Frage ist: Wer organisiert die Defensive, wenn der Gegner die Frechheit besitzt, Konfusion zu stiften wie Herthas Lukebakio?

Von Klaus Hoeltzenbein

Begonnen hatte das kollektive Schulterzucken beim FC Bayern bereits lange zuvor auf dem Rasen. Nach dem Abpfiff verbalisierte es sich dann. "So ein Spiel passiert vielleicht einmal in einer Saison", stellte Robert Lewandowski fest, am Freitagabend der auffälligste Schulterzucker: "Wir haben nur einen Punkt geholt, das tut weh." In den Chor der Leidenden streute Sportdirektor Hasan Salihamdizic die Anmerkung ein: "Wir hätten drei, vier oder fünf Tore machen müssen." Und Thomas Müller rechnete vor: "Wenn man so auftritt, gewinnt man höchstwahrscheinlich neun von zehn Spielen gegen die Hertha - das war das eine Spiel."

Strenggenommen war es allerdings bereits das zweite Pflichtspiel, nach dem die Münchner schulterzuckend in die negative Analyse gingen. Ähnlich hatte es sich ja schon zwei Wochen zuvor angehört. Die statistischen Basiswerte schienen jeweils herausragend zu sein: 65 Prozent Ballbesitz hatten die Münchner beim Supercup-Finale in Dortmund, 64 Prozent zum Bundesliga-Start gegen die Hertha, doch die Kosten-Nutzen-Rechnung fiel zu Gunsten der Gegner aus.

Zwei Blitzkonter nutzte der BVB zum Gewinn der ersten Trophäe der Saison, zwei konfuse Situationen am Münchner Strafraum genügten der Hertha, um ein 2:2 beim Titelverteidiger einzuheimsen. Wer will, kann beide Spiele also als eine frühe Warnung interpretieren: Hochrisikofußball, bei dem Ballbesitz der zentrale Wert ist, kann auch Blendwerk sein. Denn wer bedingungslos auf Offensive setzt, neigt bisweilen dazu, zu ignorieren, dass der Gegner auch noch da ist.

Coutinho rückt ins Zentrum des neuen Plans

Die Münchner stecken derzeit in einem doppelten Kulturwandel. Einerseits nehmen sie in diesem Sommer Abschied vom Jahrzehnt des Franck Ribéry und des Arjen Robben. Andererseits soll es trotzdem wieder ein paar Schritte zurück in die Vergangenheit gehen: Sie wollen wieder sehr viel mehr Guardiola wagen. Der Prophet des ewigen Ballbesitzes, der an der Isar von 2013 bis 2016 lehrte, ist - unausgesprochen - wieder das Leitbild für die neue Saison.

Darauf deutet viel mehr als nur jene Königspersonalie hin, mit deren Verkündung der FC Bayern am Freitagabend sogleich von seinem Stolperstart ablenken konnte: Nachdem Leroy Sané von einem Kreuzbandriss gebremst wurde und (zunächst?) bei Manchester City bleibt, kommt jetzt auf Leihbasis Coutinho, ein noch prominenterer Fein- und Offensivgeist seines Sports. Der Brasilianer, der in Barcelona fremdelte, rückt ins Zentrum des Plans, die Pep'schen Ballbesitzorgien zu recyceln. Es ist ein optimistischer wie riskanter Plan. Denn wahrscheinlich konnte man bei den ersten beiden missglückten Versuchen bereits die Blaupause für die meisten Bayern-Spiele der Saison entdecken: Das Starensemble will glänzen, wird sich dabei jedoch verstärkt mit Guerillastrategien selbst eines Favoritenteams wie Borussia Dortmund befassen müssen. Wird es darauf vorbereitet sein?

Theoretisch schon. Trainer Niko Kovac war ja ein typischer Guerilla-Stratege, als er von Eintracht Frankfurt nach München kam; mit einer klassischen Underdog-Taktik hatte er die Bayern im Pokalfinale 2018 ausgecoacht. Damit hatte Kovac sich empfohlen. In seinem ersten Jahr beim FC Bayern jedoch hatte er nach Auffassung von Chefs und Publikum dann anfangs viel zu viel Underdog gecoacht. Spätestens nach dem Aus im Achtelfinale der Champions League gegen den FC Liverpool war das Experiment beendet.

Und jetzt, da der Klub mit der Personalie Coutinho den Schalter demonstrativ auf Offensive umlegt, ist da die Frage: Wer organisiert die Defensive, wenn der Gegner die Frechheit besitzt, Blitzkonter zu inszenieren wie der Dortmunder Reus? Oder Konfusion zu stiften wie Herthas Lukebakio? Die anderen sind ja auch nicht blöd.

Weshalb die Personalie Hernández sofort sitzen muss

Schon heute, ohne Coutinho, sind die meisten Münchner Offensivgeister nicht für ihre militärische Disziplin in der Rückwärtsbewegung bekannt. Die Personalie Lucas Hernández, der für 80 Millionen bei Atlético Madrid ausgelöst wurde, aber noch nicht fit ist, muss also sofort sitzen, sonst fehlt da hinten gewaltig was - zumal der bisherige Abwehrchef Mats Hummels zu den Dortmundern überlief. Und sich Javi Martínez, der den Laden oft mit eckiger Hingabe zusammenhält, gerade mal wieder im Krankenstand befindet. Dort, wo Niko Kovac, 47, einst selbst als Profi das Spiel stabilisierte, im zentralen Mittelfeld, ist eine Art Befehlsnotstand zu erkennen.

Wie leidenschaftlich offenbar über die neue Ordnung diskutiert wird, drang schon nach dem Hertha-Spiel durch die Ritzen der Kabinentür. So bestätigt eine zuverlässige Quelle, Joshua Kimmich habe Kovac offensiv kritisiert, weil der Trainer angeblich zu spät gewechselt habe. Kommt in den besten Familien vor, zudem fehlen dem Trainer noch diverse Wechsel-Optionen. Dass autoritätsgefährdende Interna jedoch schon in der Startphase nach draußen dringen, bremst jede Teambildung.

Vom ehrgeizigen Kimmich weiß man, dass es ihm immer auch ums große Ganze geht. Er verteidigt zwar rechtsaußen, doch es drängt ihn ins Zentrum des Gefüges, der Juniorchef will zum Senior werden. Und so ist dieser kleine Lauschangriff auch Indiz für eine weitere Herausforderung: Kovac, der sein atmosphärisch schweres Startjahr als Meistertrainer beenden konnte, muss schnell die umbesetzte Kabine mit den vielen Egos hinter sich bringen. Auch davon hängt ab, wie lange er sich an der Dressur des Zirkus Bavaria versuchen darf. Denn wer glaubt, die Bayern hätten speziell dem Trainer eine Mannschaft auf den Leib geschnitten, sie hätten ein Team für Niko Kovac zusammengekauft, der irrt gewaltig.

Kovac muss bald die umbesetzte Kabine hinter sich bringen

Für wen aber dann? Sicher auch für Robert Lewandowski. Der ist zwar 30 und damit in der Neige seiner Laufbahn, aber wenn er alles, wirklich alles abruft, was die beneidenswert strukturierte Bauchmuskulatur verspricht, ist ganz vorne, in der Sturmspitze, global kaum einer besser als er. Mit zwei Toren gegen die Hertha hat Lewandowski seine Jagd eröffnet. Es winkt fette Beute, denn hauptsächlich in seinen Zulieferbetrieb wurde investiert: Neben Coman und Gnabry, Müller, Goretzka oder Thiago bieten die Leihspieler Coutinho und Ivan Perisic (von Inter Mailand) fortan ihre Dienste an. Aber alles auf Lewandowski zu setzen? Alle hauptsächlich für Lewandowski spielen lassen? In dieser Fixierung könnte - neben der Defensivstruktur - die zweite Münchner Schwachstelle liegen: Was ist, wenn der nahezu nie Verletzte, der fast immer Gesunde, doch im Herbst mal Husten hat? Hat der FC Bayern gleich die schwere Grippe?

Annähernd so torgefährlich wie Lewandowski ist in diesem Kader niemand, aber es wird kein klarer Stellvertreter kommen. Mario Mandzukic, der lange gehandelt wurde, kehrt nicht von Juventus Turin nach München zurück. Und am Sonntagabend wurde die finale Personalakte geschlossen: Die Bayern, hieß es, hätten Leipzigs Nationalstürmer Timo Werner endgültig abgesagt. "Jetzt ist unser Kader so komplett und so gut aufgestellt, wie wir uns das vorgestellt haben", zog Uli Hoeneß den Strich.

Nein, die Bayern-Bosse haben ihren Kader 2019/20 nicht für Kovac, ihren Trainer, gebaut. Und auch nicht primär für Lewandowski, ihren Unverzichtbaren. Sie haben ihn für sich selbst gekauft. Zugeschnitten auf die eigenen Sehnsüchte. Auch wenn Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge schon länger den Eindruck pflegen, dass sie mehr trennt als verbindet, so bleibt ihnen eines gemein: Beide haben nicht mehr viel Zeit. Zwar tritt Hoeneß in Kürze als Präsident ab, aber er wirkt weiter im Aufsichtsrat mit. Und Rummenigge übergibt sein Amt als Vorstandschef verabredungsgemäß im Dezember 2021 an den demnächst einrückenden Oliver Kahn. Beide wollen 2013 wiederholen, einmal noch wie damals in Wembley die Champions League gewinnen. Das Finale 2020 findet in Istanbul statt, das Finale 2021 in St. Petersburg oder in München. Es gemeinsam zu erleben, dazu gibt es also nur noch zwei Chancen.

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