Süddeutsche Zeitung

Joshua Kimmich beim FC Bayern:Kurz vor der Ruhmeshalle für Führungsspieler

Joshua Kimmich ist schon mit 25 Jahren und nicht erst seit seinem Supercup-Tor eine Autorität im Mittelfeld des FC Bayern. Er folgt einer Ahnenreihe von Spielern mit dem sogenannten Bayern-Gen.

Von Christof Kneer

Es gibt dieses kleine Video im Netz, und wer es sich ansieht, der ahnt: Man hätte es früher wissen können. Im Video sind zwei junge Fußballer zu sehen, 14 Jahre alt, sie spielen beim VfB Stuttgart "in der U 14, äh, U 15", wie der 14-jährige Serge Gnabry sagt. Er zählt dann mit heller Stimme seine früheren Vereine auf - "TSV Weissach, TSF Ditzingen, GSV Hemmingen, Sportvereinigung Feuerbach, Stuttgarter Kickers" - und dann sagt er noch, sein persönliches Ziel sei, "mich weiterzuentwickeln". Man kann mindestens zweierlei in diesem Video lernen: Erstens, dass das scheußliche Wort "weiterentwickeln" offenkundig schon in den Jugendinternaten so penetrant einstudiert wird wie ein Freistoßtrick; zweitens, dass Gnabry schon als Kinderfußballer weit in der Welt herumgekommen ist, sogar bis nach Feuerbach. Der kleine Serge ist immer zu dem Verein gewechselt, bei dem sein Vater Trainer war, oder anders gesagt: Sein Vater ist immer zu dem Verein gegangen, bei dem er dachte, dass sein Sohn sich besser - Achtung! - weiterentwickeln könnte. Er wolle mal Profi werden, sagt Serge Gnabry in dem Video auch noch. Kleiner Schnitt. Dann kommt Joshua Kimmich.

"Meine bisherigen Vereine sind nur der VfB Bösingen", sagt der 14-jährige Kimmich sehr konzentriert, und in der neuen Saison wolle er sich "weiterentwickeln und Oberliga-Meischder werden".

Die aus heutiger Sicht entscheidende Nachricht steckt aber in dem Blick des 14-Jährigen. Kimmich schaut, als würde er die Weiterentwicklung notfalls zwingen, zu ihm zu kommen. Und wenn man ganz genau hinschaut, dann sieht man im Blick des 14-Jährigen vielleicht auch schon das Lupfertor gegen Dortmund, mit dem er im Mai 2020 die deutsche Meisterschaft entscheidet; oder die Flanke auf Kingsley Coman, mit der er im August 2020 das Champions-League-Finale entscheidet; oder jene irre Bodenakrobatik-Nummer, mit der er am letzten Septembertag 2020 den Supercup gegen Dortmund entscheidet. Schlüsselszenen in Schlüsselspielen.

Joshua Kimmich entschlossen zu nennen, wäre so, als würde man Mozart als relativ musikalisch bezeichnen.

"Joshua Kimmich hat eine ganz besondere Mentalität", sagte Bayern-Trainer Hansi Flick nach dem 3:2 im Supercup gegen Dortmund über den einstigen 14-Jährigen, der mit Bayern jetzt in drei Monaten fünf Titel gewonnen hat. Kimmich sei "auf einem richtig guten Weg, einer dieser Spieler zu sein, die diesen Verein prägen".

Es ist gerade fünf Jahre her, als Bayerns damaliger Kaderplaner Michael Reschke den berühmten Cheftrainer Pep Guardiola zu einem Spiel des TSV 1860 München schleppte, zweite Liga war das damals, es ging darum, beim Gegner Leipzig einen jungen Spieler anzuschauen, Kimmich, der könnte einer sein, meinte Reschke. Kimmich, Guardiola und Reschke erinnern sich auf sehr ähnliche Weise an diesen Tag, alle drei sind bis heute der Meinung, Kimmich habe nicht mal besonders gut gespielt. Trotzdem nehmen!, meinte Guardiola damals. Es war der Moment, in dem - wie man heute weiß - das Triple des Jahres 2020 seinen Anfang nahm.

Jene prägenden Spieler, wie Hansi Flick sie nennt, tragen beim FC Bayern traditionell einen besonderen Namen, sie heißen dort Führungsspieler. Die Begrifflichkeiten sind vage, es gibt kein präzises Stellenprofil, aber es ist davon auszugehen, dass die Führungsspieler das sog. Bayern-Gen besitzen sowie das sog. "Mia san mia" verkörpern. Diese Führungsspieler zeichnen sich dadurch aus, dass sie unabhängig von Taktik, Laufwegen oder anderem akademischem Zeug imstande sind, Fußballspielen ihren Willen aufzuzwingen.

Ob Franz Beckenbauer ein Führungsspieler war, wäre demnach per definitionem strittig, Beckenbauer war kein Gewaltherrscher, er musste das Spiel zu nichts nötigen, es kam freiwillig zu ihm. Eine Autorität war er natürlich trotzdem oder gerade deswegen, ebenso Gerd Müller, der ein untrügliches Gespür fürs Spiel besaß und unter Zuhilfenahme dieses Gespürs bei der WM 1974 ein paar Änderungen in der Aufstellung empfahl (Uli Hoeneß wird sich erinnern, wer unter anderem aus dem Team flog). Als klassische bajuwarische Führungsspieler gelten aber vor allem Spieler, die in der Zentrale stehen, im Maschinenraum, dort, wo strategische Entscheidungen getroffen oder erzwungen werden. Paul Breitner war einer, Lothar Matthäus, Stefan Effenberg, auch Michael Ballack und Bastian Schweinsteiger (Ausnahmen, die die Regel bestätigen, waren der Torhüter Kahn und der Außenverteidiger Lahm).

Es ist Definitions- und Geschmackssache, ob Joshua Kimmich im großen historischen FC-Bayern-Museum bereits in jenen Raum gehört, in dem diese Ahnenreihe hängt, oder ob er mit seinen 25 Jahren gerade erst Einlass begehrt. Im Grunde ist das aber wurscht: Wenn Kimmich irgendwo Einlass begehrt, kommt er sowieso rein. Kimmich ist ein großer Woller, so sehr gewollt hat im deutschen Fußball schon lang keiner mehr, manchmal muss sich selbst die Physik geschlagen geben.

Das geht ja eigentlich gar nicht: nach einem Rechtsschuss auf den Bauch plumpsen und dann den Abpraller vom Torwart, immer noch auf dem Bauch liegend, mit der linken Hacke oder Ferse oder Hackenferse doch noch ins Tor befördern.

Wer die verwandtschaftlichen Verhältnisse von Kimmichs Supercup-Siegtor gegen Dortmund untersucht, landet womöglich bei jenem Tor, das Lothar Matthäus bei der WM 1990 gegen Jugoslawien schoss. Matthäus kam von viel weiter hinten bei seinem Gewaltlauf durch die Räume, die beeindruckt zur Seite wichen, um ihn durchzulassen; er umkurvte mehr Menschen und legte sich vor dem Torschuss auch nicht auf den Bauch. Aber die Geisteshaltung, der das Tor entsprang, war die gleiche: Kimmich wollte, dass Bayern diesen Supercup gewinnt, egal, ob die Dortmunder einen 0:2-Rückstand aufgeholt hatten; Matthäus wollte, dass Deutschland gut in die WM startet und später den Titel holt. Schweinsteiger wollte das 2014 auch und wurde zum getackerten Schmerzensmann. Breitner wollte. Auch Effenberg wollte, was sich bei ihm mitunter darin äußerte, dass er zu Beginn eines Spiels einen Reizpunkt setzte (Chiffre für: den Gegner umhauen). Und wenn Ballack wollte, fiel umgehend ein Kopfballtor.

Kimmich steht stellvertretend für die hierarchischen Prozesse, die Flick im Team angestoßen hat, Kimmich härtet und schärft diese Elf, und er darf sich darauf verlassen, dass die anderen ihn nicht für einen anstrengenden Streber halten, sondern sich gerne mitziehen lassen. Bayerns Maschinenraum ist nun mit zwei Wollern besetzt, mit Kimmich und Leon Goretzka, was der Elf Wettbewerbshärte und ein seriöses Binnenklima garantiert - ein Klima, in dem sich auch lässigere Charaktere wie Leroy Sané schnell eingemeinden lassen.

Wie viel integrative Arbeit den Führungsspielern in den nächsten Tagen bevorsteht, ist offen; noch ist unklar, ob und wie viele neue Spieler bis zum Transferschluss am Montag kommen werden. Der vorübergehend gehandelte Hoffenheimer Angreifer Andrej Kramaric wird nicht nach München überlaufen, der junge Rechtsverteidiger-Kandidat Sergino Dest hat sich für den FC Barcelona entschieden.

Käme noch ein Rechtsverteidiger, wäre das die Garantie, dass Kimmich auch nicht mehr nothalber nach rechts rücken müsste, dass er für immer in seinem Maschinenraum bleiben dürfte. Wahrscheinlich kann ein neuer Rechtsverteidiger auch gar nicht anders, als noch nach München zu kommen, denn Kimmich will es unbedingt.

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Quelle:
SZ vom 02.10.2020/schm
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