Süddeutsche Zeitung

Abschied im Sommer:Flick nimmt das Schicksal in seine Hand

Hansi Flick kündigt an, den FC Bayern im Sommer verlassen zu wollen, Kapitän Neuer spricht von einer "emotionalen Geschichte". Der Trainer begründet seine Entscheidung nicht - aber, was er sagt und nicht sagt, lässt tief blicken.

Von Javier Cáceres, Wolfsburg

Die Partie des FC Bayern beim VfL Wolfsburg war gerade beendet - und niemand hätte aus der Szene, die sich am Spielfeldrand zutrug, schließen können, dass Hansi Flick einen Abschied im Sinn hatte. Flick, 56, ging zum vierten Offiziellen, Arne Aarnink, und protestierte. Er schob den linken Ärmel hoch, deutete auf die Uhr, die er Aarnink zeigte, und dass er derart in Rage wirkte, war einigermaßen erstaunlich.

Fünf Minuten Nachspielzeit hatte Aarnink angezeigt, was möglicherweise großzügig bemessen war. Am Ende waren es mehr, und das hieß, dass das späte Leid des FC Bayern ein wenig in die Länge gezogen worden war. Einerseits. Anderseits: So richtig groß war dieses Leiden auch nicht gewesen, und letztlich hatte der FC Bayern mit 3:2 gewonnen. Dieser Sieg war wiederum gleichbedeutend mit sieben Punkten Vorsprung auf RB Leipzig, das am Vorabend gegen die TSG 1899 Hoffenheim unentschieden gespielt hatte, und daraus wiederum folgte, im Grunde jedenfalls, dass die Bayern sich schon wieder als Deutscher Meister fühlen konnten. Sie sind daran seit dem Pleistozän gewöhnt.

Und dennoch stand Flick also der Sinn nach einer kurzen, intensiven Debatte mit Aarnink? Um die Krümel an Sekunden, die der Schiedsrichter draufgeschlagen hatte? So war das, und vielleicht war das auch nur ein Hinweis darauf, dass es ihn wirklich pressierte: das ganze Rumgeeiere um seine Zukunft endlich zu beenden.

Flick ging, das erzählte er später, in die Kabine. Und erklärte der Mannschaft, dass es stimmte. Dass er den Verein um die vorzeitige Auflösung seines Vertrages gebeten habe, zum Ende der laufenden Saison, die auch seine erste vollständige als Cheftrainer war.

Wer würde Flick jetzt schon aufhalten?

"Ich habe nur den Wunsch geäußert, ich weiß auch, dass ich einen Vertrag habe ...", sollte Flick später in einer für die Umstände brutal kurzen Pressekonferenz sagen. Was nahelegte, dass der Klub noch keine verbindliche Antwort gegeben hatte. Wer auch immer der Klub ist in diesem Zusammenhang, in diesen Zeiten, die für den FC Bayern auch Zeiten des Übergangs sind, von Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge zu Herbert Hainer und Oliver Kahn. Eine Stellungnahme von Seiten des Vereins gab es am Samstagabend noch nicht.

Es gibt Funktionäre (und vor allem Spieler) beim FC Bayern, die Flick wohl gern halten würden. Nur andererseits: Wer würde Flick jetzt noch die Ausgangstür versperren, sprich: auf Vertragstreue bestehen wollen? "Wenn einer sagt, dass er geht, ist er längst gegangen", lautet das berühmte Adagio des Schriftstellers Julio Cortázar. Und so kann man die Ära, die Flick zum Trainer mit der reichsten Lorbeerernte der Bayern-Geschichte machte, als quasi beendet ansehen. Flick, der Ende 2019 Niko Kovac beerbte und dann beispiellose sechs Titel gewann, ist am Samstag endgültig zu Bayerns "Soon to be ex" mutiert.

Es wäre vermessen, wollte man behaupten, dass man es am Samstag in Wolfsburg spüren konnte, dass etwas im Busche war. Aber das Engagement des Hansi Flick sprang am Mittellandkanal schon ins Auge. Er vermaß die ganze Länge und Breite der Coaching-Zone, er überschritt ihre Linien, winkte und rief, ganz so, als wollte er sich nichts vorwerfen lassen. Solide und emsige Arbeit, bis zur letzten Sekunde, so lautete der Titel seines Seitenlinientanzes. Am besten war das zu erkennen, wenn etwas nicht gelang: Rund um die 30. Minute etwa, als Stürmer Leroy Sané zwei fantastische Gelegenheiten hatte und sie vergab. Beim ersten Mal drehte sich Flick um die eigene Achse und prügelte mit der flachen Hand auf die Werbebande der örtlichen Dieselskandalnudel, sprich: der Muttergesellschaft des VfL Wolfsburg.

Flick sagt Dinge, die tiefer blicken lassen

Beim zweiten Mal rotierte Flick wieder um den eigenen Kern und machte Anstalten, ein Wasserfläschchen vor Wut auf den Boden zu werfen. Flick hielt dann doch noch an sich. Vielleicht auch, weil es in einem vergnüglichen, letztlich an Toren reichen Spiel gerade 2:0 für seine Bayern stand, nach Toren von Jamal Musiala (15.) und Eric Maxim Choupo-Moting (24.), bei denen Koen Casteels absurd danebengriff. Die Wolfsburger kamen durch Wout Weghorst (35.) heran, kassierten neuerlich durch Musiala das 1:3 (37.) und verkürzten kurz nach der Pause durch Maximilian Philipp und hätten dann noch ... Aber: Stopp! Wer wollte da noch darüber reden, nach Flicks Ankündigung?

"Das war eine emotionale Geschichte für uns alle. Das müssen wir als Mannschaft erst einmal verarbeiten, weil wir eine sehr erfolgreiche und schöne Zeit hatten", sagte Kapitän Manuel Neuer. Und wer wollte, der konnte in den Augen Flicks Tränen erkennen, als er auf dem Rasen David Alaba in den Arm nahm, der dann auch ging.

In seinem Interviewmarathon spulte Flick danach bei ARD, Sky und dem ZDF die im Kern gleiche Rede ab. Er erklärte, dass er der Mannschaft vor allem deshalb heute reinen Wein einschenkte, weil er "Flurfunk" vernommen hatte. Die Entscheidung begründete er weder bei den Medien noch bei der Mannschaft, "das muss er auch nicht", sagte Thomas Müller. Aber er sagte schon ein paar Dinge, die tiefer blicken ließen.

Dass die Entscheidung für ihn "nicht einfach war, weil ich eine Mannschaft habe, die eine enorme Qualität und Mentalität hat, und einen Verein habe, der mich schon seit meiner Kindheit begleitet. Ich war Fan! Ob das Gerd Müller oder Paul Breitner oder Kalle Rummenigge waren - alles meine Idole zur Jugendzeit", sagte er. Flick sprach auch von "ewiger" Dankbarkeit darüber, beim FC Bayern Trainer geworden zu sein - eine Dankbarkeit, die er ausdrücklich an "Kalle, Uli oder Herbert Hainer" adressierte. Aber nicht, eine mindestens bemerkenswerte Auslassung, an den künftigen Vorstandsvorsitzenden Oliver Kahn und den jetzigen Sportdirektor Hasan Salihamidzic, mit dem er schon länger ein Nichtverhältnis pflegt.

Der DFB kann sein Trainer-Casting einstellen

Und nun? Der FC Bayern wird sich einen neuen Cheftrainer suchen müssen, was ad hoc vor allem die Gerüchte um Julian Nagelsmann (Leipzig) befeuern wird. Und der Deutsche Fußball-Bund (DFB) kann das Casting einstellen, um einen Nachfolger für Joachim Löw zu finden. Ihm hatte Flick unter anderem bei der Weltmeisterschaft 2014 assistiert, sie konnten danach den Weltpokal umklammern.

"Natürlich ist der DFB eine Option, die sich jeder Trainer überlegen muss. Aber ich muss es jetzt erst mal verdauen", erklärte Flick - und beteuerte sogleich, dass es noch "kein Gespräch" gegeben habe. "Meine Zukunft ist überhaupt nicht klar", versicherte er. Und im Grunde seines Herzens weiß wohl auch er, dass es auf dem Planeten wenige Menschen gibt, die ihr Schicksal fester in der eigenen Hand haben als er.

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