Süddeutsche Zeitung

FC Bayern:"Hey, Schiri, die gehen immer auf den Jungen los"

In einem leeren Stadion wird der Fußball zum Hörspiel, man bekommt plötzlich die Kommandos aller Spieler mit. Beim 5:2 gegen Frankfurt stechen zwei Münchner Akteure besonders heraus.

Von Christof Kneer

Vermutlich aus einem alten Reflex heraus lief Thomas Müller in Richtung Seitenlinie, wo er seinen Trainer vermutete. Für so eine Spontankonferenz am Seitenrand muss man normalerweise einen guten Moment abwarten, der Weg da raus ist weit, und das Spiel wartet nicht. Man kann nicht einfach zum Trainer rausrennen und einfach seine Position auf dem Feld aufgeben, während das Spiel weiterläuft (wobei, wenn das einer kann, dann Müller, der muss seine Position nicht halten, weil er sowieso keine hat). Im Spiel gegen Frankfurt hat Müller aber schnell festgestellt, dass zurzeit vieles anders ist als sonst. Man muss gar nicht mehr raus zum Trainer rennen, wenn der einen hören soll.

Thomas Müller blieb also auf halbem Weg stehen und rief "Jetzt Manndeckung, oder?" Sein Trainer hat das gehört, der andere Trainer hat das gehört, und weil die paar Versprengten auf der Tribüne nur Mund- und Nasen-, aber keinen Ohrenschutz trugen, haben sie das auch gehört.

Man lernt Fußballspiele noch mal neu, das ist eine Erkenntnis dieser geisterreichen Tage. Fußballspiele sind ohne Zuschauer auch zu Hörspielen geworden, sie enthalten sehr viel Text von sehr vielen Darstellern, die man auf diese Weise auch noch einmal neu kennenlernt.

Von Müller wusste man zwar, dass er Fußball nicht nur spielt, sondern auch spricht, man hat ihn ja schon oft in Dialogen erwischt, mit dem Schiedsrichter, dem Gegenspieler, dem Mitspieler. Man hat das manchmal für eine Übersprungshandlung gehalten, der Müller ist heute nicht so gut drauf, der labert wieder alle voll. So gesehen hat man beim 5:2 (2:0) gegen Eintracht Frankfurt einen neuen Müller getroffen, vielleicht war es aber auch nur der alte, und man hat das vorher nur nie gehört. Als Müller in der 56. Minute den halben Weg zum Trainer raus lief, trieb ihn keine Übersprungshandlung und kein Laberdrang. Es ging offenbar konkret um Frankfurts Martin Hinteregger, der den vorübergehend erstaunlich schusseligen Bayern nach zwei Eckbällen zwei Gegentore verpasst hatte. Müllers Wortbeitrag war der eines verantwortungsbewussten Profis, der mit seinem Vorgesetzten kurz darüber berät, ob man für diesen gefährlichen Menschen beim nächsten Eckball nicht besser einen eigenen Bodyguard abstellen sollte.

Auch der Trainer Flick lernt seine Spieler gerade noch mal neu kennen. Er ist zwar kraft Amtes näher an ihnen dran, aber in einem vollen Stadion hört er auch nicht immer so genau, wer wann was ruft. "Heute habe ich viele Kommandos gehört, die mir gut gefallen haben", sagte Flick nach dem Spiel und tat etwas, was Trainer sonst nicht so gerne tun. Er lobte zwei Spieler, ungefragt, es war ihm ein Anliegen.

Er müsse "heute Thomas Müller herausheben, der die Räume sehr intelligent genutzt hat", sagte Flick, "und auch David Alaba hat als Abwehrchef sehr gut gespielt, er hat die Mitspieler verbal sehr gut gesteuert. Ich weiß ja, dass er manchmal mit anderen Positionen liebäugelt, aber als Innenverteidiger setzt er wirklich Maßstäbe".

Alaba wollte immer eine wichtigere Rolle im Bayern-Spiel

Müller und Alaba sind die beiden Spieler, die neben Alphonso Davies die markanteste Entwicklung unter Flick gemacht haben. Müller hat sich mit 30 Jahren wieder zu jenem Müller entwickelt, der er immer sein will, aber schon länger nicht mehr war. Und Alaba hat sich mit 27 zu dem Alaba entwickelt, der er immer sein wollte, bloß halt woanders. Alaba wollte immer wichtig sein im Bayern-Spiel, er wollte immer mehr sein als der kleine Bruder von Ribéry, er wollte mehr sein als nur der links hinten konkurrenzlose Spieler, der aber doch nur der viert- oder siebtwichtigste Spieler in dieser Top-Elf ist. Im Moment ist Alaba der große Bruder von Alphonso Davies und so wichtig wie noch nie - auf einer Position, auf der er nie wichtig sein wollte.

Kleine Hörprobe: "Hey, Schiri, die gehen immer auf den Jungen los", ruft Alaba, als die Frankfurter wieder mal den schnellen Davies foulen. "Bravo, Ivan, weiter so!", lobt er Perisic, als der vor dem 1:0 den Ball hübsch durchlässt. "Gut, Jérome!", ruft er Boateng hinterher, als der ausgewechselt wird. Perisic stand in einem WM-Finale, Boateng hat sogar eines gewonnen, und jetzt werden beide generös gecoacht von einem einstigen Kürspieler, der unter Flick zum unverzichtbaren Pflichtspieler aufgestiegen ist. Was Flick in München macht, ist pragmatische Trainerarbeit, er stiftet keine ideologische Verwirrung, er legt sich auf Spieler fest und macht sie stark.

Fürs Erste ist ihm dabei eine Mannschaft gelungen, die sich so sehr am neuen Gegenpressing-Stil erfreut, dass sie ständig auf den Torerfolg aus ist. Müllers 2:0 und Davies' 4:2 waren klassische Gegenpressing-Tore, nach erzwungenem Ballgewinn ging es sündhaft schnell durch die feindlichen Linien, und auch die restlichen Tore (Goretzka, Lewandowski, Hinteregger/Eigentor) zeigten eine Elf, die mit sich im Reinen ist. Das war es, was Flick gefiel: dass er all das, was er sonst sieht, diesmal auch hören konnte. Seine Bayern spielten hörenswerten Fußball, sie machten akustisch ein gutes Spiel, die Spieler haben sich umeinander gekümmert und sich gegenseitig gecoacht. Alaba war der Lauteste.

Flick mahnt vor dem BVB-Spiel

Aber es hat dann nicht mal Hintereggers Standardtore gebraucht, um die Bayern auch zur Vorsicht zu mahnen. Hier spielt ja keines der traditionell abgebrühten Bayern-Teams, Flicks Elf schießt lustvoll 80 Ligatore, leistet sich aber auch ein paar defensive Naivitäten, und so könnte das Dienstagsspiel in Dortmund zur Härteprüfung für Team und Trainer werden. Alaba (Abwehr) und Müller (Sturm) stehen ja stellvertretend für die beiden Mannschaftsteile, deren Verhältnis dem Trainer noch Sorgen bereitet. Man müsse an der "Balance" arbeiten, sagt Flick, manchmal suche seine Elf vor lauter Begeisterung zu schnell den Torerfolg, "aber wir müssen auch mal das Tempo rausnehmen und den Gegner auch mal mit Ballbesitz dominieren".

Flick findet, dass seine Elf sich ein bisschen mehr Ruhe gönnen sollte, und zwar zu ihren eigenen Bedingungen. Sich eine Konzentrationspause zu nehmen, während der gegnerische Verteidiger zwei Standardtore macht, hält er für keine gute Idee.

Wichtig wäre dabei natürlich, dass sich die Spieler weiterhin gegenseitig coachen, aber auch da gibt es noch Verbesserungsbedarf. Noch hat sich das Team offenkundig nicht geeinigt, ob man jetzt "Jo" oder "Josh" rufen soll, wenn es um Joshua Kimmich geht, gegen Frankfurt war beides zu hören, mit leichten Vorteilen für "Josh". Der Führungsspieler Müller genießt in diesem Fall allerdings keine Autorität: Er hat einmal sogar "Joschi" gerufen.

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Quelle:
SZ vom 25.05.2020/schm
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