FC Bayern:Der Medizinmann hat Stress

RSC Anderlecht - Bayern München

Notfalleinsatz in Anderlecht: Teamarzt Müller-Wohlfahrt (wehendes Haar) geleitet Thiago vom Platz.

(Foto: Marius Becker/dpa)
  • Gegen Anderlecht kehrt Teamarzt Müller-Wohlfahrt auf die Bank des FC Bayern zurück und hat gleich jede Menge Arbeit.
  • Die Ausfälle von Arjen Robben und Thiago verschärfen die Verletzungsmisere der Münchner.

Von Benedikt Warmbrunn, Anderlecht

In dem Moment, in dem die Sorge am größten war, war nichts zu sehen von dem Mann, der gekommen war, um allen die Sorgen zu nehmen. Eine knappe Stunde war gespielt, Robert Lewandowski lag auf dem Rasen des Stadions in Anderlecht, gekrümmt, schreiend vor Schmerz. Sollte etwa auch noch Lewandowski ausfallen? Der einzige Stürmer im Kader? Der letzte verbliebene Offensivmann? Es wäre eine wunderbare Gelegenheit gewesen für einen Mannschaftsarzt, einmal über den Rasen zu sprinten, mit raumgreifenden Schritten, mit wehendem Haar, um nur die Hand aufzulegen, und schon wären alle beruhigt beim FC Bayern München. Es wäre ja die Hand von einem, den sie manchmal Winnetou nennen.

Es rannte aber kein Mann mit wehendem Haar auf den Rasen. Der Mann, den sie manchmal auch Mull nennen, war ja wenige Minuten zuvor erst in die Kabine gegangen, mit langsamen Schritten, das Haar in keiner Aufregung. Es war kein großer Auftritt, aber das lag nicht an ihm, an Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt, 75, an diesem Abend nach zweieinhalb Jahren als Mannschaftsarzt zurückgekehrt auf die Bank des FC Bayern. Winnetou durfte nicht sprinten. Denn er begleitete Arjen Robben, noch so einen Sprinter. Doch Robben humpelte.

Ihm bleiben nicht genug Hände, um sie auf all die Problemzonen aufzulegen

Lewandowski stand also irgendwann wieder auf, er schimpfte auf den Schiedsrichter. Es ging dann doch weiter für ihn. Medizinischen Beistand benötigte er nicht. An diesem Abend war aber selbst das eine nur wenig beruhigende Nachricht.

Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt ist zurück auf der Bank des FC Bayern, empfangen wurde er von so vielen kleineren, größeren und ganz großen Wehwehchen, dass nicht mal ihm genug Hände bleiben, um sie auf all die Problemzonen aufzulegen.

Das 2:1 (0:0) des FC Bayern am Mittwochabend im vorletzten Gruppenspiel in der Champions League wird ja nicht in Erinnerung bleiben wegen der Tore von Lewandowski (51.) und Corentin Tolisso (77.). Es wird ein paar Tage lang in Erinnerung bleiben als der schwächste Auftritt der Mannschaft seit der Rückkehr von Trainer Jupp Heynckes Anfang Oktober. Und es wird Wochen, vielleicht Monate lang in Erinnerung bleiben als der Abend, an dem Müller-Wohlfahrt zwei Spieler in die Kabine begleiten musste.

Da war zum einen Arjen Robben, der nach einem Zweikampf selbst angezeigt hatte, dass er ausgewechselt werden muss. Ihn nahm Müller-Wohlfahrt an der Seitenlinie in Empfang, das war nach 48 Minuten. Und da war Thiago, dem der Arzt entgegen gesprintet war, bis zum Mittelkreis. Die Haare wehten im Wind. Dann erreichte ihn der humpelnde Spieler, gemeinsam verließen sie das Spielfeld, mit langsamen Schritten, das war nach 43 Minuten. Müller-Wohlfahrt legte die Hand auf, zwischen Thiagos Schulterblätter. Es half nichts.

Der Abend in Anderlecht war also gleich einer, der Müller-Wohlfahrt beanspruchte wie nicht viele zuvor in seiner jahrzehntelangen Karriere als Medizinmann.

Für Robben lautete die Diagnose am Tag danach: Kleiner Muskelfaserriss im linken Oberschenkel. Bei Thiago ist die Lage komplizierter. Der Spanier, der am vorigen Samstag beim 3:0 gegen den FC Augsburg aufgrund einer Knieprellung pausiert hatte, sei zuvor angeschlagen von der Länderspielreise zurückgekommen, sagte Trainer Jupp Heynckes noch in Anderlecht; die Verletzung sei "wieder aufgebrochen". Heynckes sprach von einer "schweren Muskelverletzung", die offizielle Diagnose lautet Teilriss eines Muskels im Oberschenkel. Bayerns Sportdirektor Hasan Salihamidzic sprach davon, dass der Mittelfeldspieler "vermutlich mehrere Monate" ausfallen werde.

"Wir können uns aktuell wirklich keine Ausfälle mehr leisten"

An diesem Samstag, im Auswärtsspiel bei Heynckes' Heimatverein Borussia Mönchengladbach, kann der Trainer vermutlich also gerade einmal einen seiner Offensivstammspieler einsetzen: Angreifer Lewandowski. Neben Robben und Thiago fehlt ja schon länger Franck Ribéry; Thomas Müller und Kingsley Coman sind angeschlagen beziehungsweise noch nicht ganz genesen - würde Heynckes sie spielen lassen, verstieße er jedoch gegen einen seiner wichtigsten Grundsätze: gegen den, nicht fitte Spieler zu "schützen". Hinzu kommen die Außenverteidiger David Alaba und Rafinha, die beide in Anderlecht fehlten. "Wir können uns aktuell wirklich keine Ausfälle mehr leisten", sagte Heynckes.

Erst stabil, als Hummels und Martinez kamen

Nicht zu übersehen war das in Anderlecht, wo der FC Bayern zwar im neunten Spiel unter Heynckes zum neunten Mal gewann - wo er aber auch gegen einen Gegner, der bis dahin noch kein einziges Tor in dieser Champions-League-Saison erzielt hatte, in bedenkliche Nöte geriet.

"Engagiert, läuferisch sehr gut, aggressiv, hat auch guten Fußball gespielt", sagte Heynckes - er sprach über Anderlecht. Seine Mannschaft dagegen trat bequem auf, läuferisch zurückhaltend, in den Zweikämpfen übervorsichtig. Guten Fußball spielte sie nur, als der erste Punktverlust unter Heynckes drohte, und auch dann nur vorübergehend. "Wir haben heute das schlechteste Spiel seit Langem gemacht", sagte Jérôme Boateng. "Auch für meine Mannschaft ist es schwer, immer das gleiche Niveau aufrecht zu halten", sagte der stets so höfliche Heynckes.

Nicht zu übersehen war auch, dass die Mannschaft trotz der Erfolge unter Heynckes noch kein restlos stabiles Gefüge hat, dass die Statik des Spiels vor allem von zwei Stützen abhängt: von Innenverteidiger Mats Hummels sowie von Javier Martinez im defensiven Mittelfeld. Beide schonte Heynckes zunächst für das Spiel in Mönchengladbach. Erst als die beiden in der zweiten Halbzeit eingewechselt wurden, stabilisierte sich die Defensive.

In dieser Nacht der Ernüchterung wurde Heynckes irgendwann gefragt, welche Ziele er für das letzte Gruppenspiel der Champions League gegen Paris Saint Germain am 5. Dezember habe. Wenn man das Hinspielergebnis von 0:3 sehe und das momentane Torverhältnis, erklärte Heynckes, "kann man, nüchtern betrachtet, nicht sagen, dass es um den ersten Platz geht". Natürlich, er wolle nach Möglichkeit auch dieses Spiel gewinnen. "Alles andere wäre aber vermessen."

Nötig für den Gruppensieg wäre schließlich ein Sieg mit vier Toren Vorsprung. Eine höchst anspruchsvolle Herausforderung für eine Mannschaft, der gerade die Offensivspieler ausgehen.

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