Champions League:Kerosin aus 40 000 Kehlen

Champions League: Fans von Besiktas Istanbul im Spiel gegen den FC Bayern im Achtelfinale 2018.

Die Besiktas-Fans werden ihrem Ruf als lautes Publikum gegen die Bayern gerecht - denen gefiel es.

(Foto: Murad Sezer/Reuters)
  • Die Fans von Besiktas werden im Achtelfinal-Rückspiel der Champions League ihrem Ruf als lautes Publikum gerecht.
  • Doch die Bayern lassen sich von der Atmosphäre nicht einschüchtern, sondern genießen den Höllenlärm.
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Von Claudio Catuogno, Istanbul

Eingehüllt in dichten Qualm liegt das Stadion am Ufer des Bosporus, drum herum ein Menschenmeer aus Fackeln und Gesang, beschienen vom Licht hunderter roter Bengalofeuer. Das waren die Bilder, die vor dem Anpfiff auf die TV-Screens in der Arena übertragen wurden. Es waren allerdings Archivaufnahmen, in Endlosschleife wiederholt wie eine bunte Verheißung. Seht her, so ist Besiktas: leidenschaftlich bis an die Grenze der Unvernunft - und manchmal darüber hinaus! Tatsächlich war vor dem Anpfiff am Mittwochabend alles ruhig zwischen Taksim-Platz und Uhrturm von Dolmabahce, der Heimat von Besiktas, abgesperrte Straßen, kanalisierte Fanströme, nur einige besonders Wagemutige spazierten mit provokativ entzündeten Bengalos an den Polizisten vorbei. Man ließ sie vorbeispazieren.

Und der berühmt-gefürchtete Düsenjet? Der startete das erste Mal, als die Aufstellung des FC Bayern verlesen wurde.

130 Dezibel, so laut ist, wenn man der vergleichenden Lautstärkewissenschaft glauben darf, ein startender Kampfjet aus zehn Metern Entfernung, und es gehört zum Selbstverständnis der Besiktas-Anhänger, dass sie das auch schaffen, mit dem Kerosin aus 40 000 Kehlen. Den Weltrekord für die lauteste Menschenmenge in einer Sportarena hat das "Guinness Buch der Rekorde" zwar den Kansas City Chiefs bescheinigt: In ihrem Arrowhead Stadium in Kansas City, Missouri, haben sie am 29. September 2014 einen Schrei von 142,2 Dezibel aufs Schallpegelmessgerät gebracht. Aber die 141 Dezibel, die Besiktas-Fans 2013 im Heimspiel gegen Genclerbirligi herbei brüllten, noch im alten Inönü-Stadion, haben ihnen immerhin den Ruf als lautestes Fußball-Publikum gesichert. Und dass es auch im 2016 an gleicher Stelle eröffneten Vodafone-Stadion sehr, sehr laut werden kann, darüber hatten die Bayern schon vor dem Hinspiel eine Menge hören und lesen müssen. Man hatte das griffige 5:0 daheim, das nun dieses 3:1 im Rückspiel bedingte, zumindest teilweise sogar damit erklären können: mit Respekt vor dem Lärm.

Als RB Leipzig zum Gruppenspiel bei Besiktas zu Gast war, war die Stimmung so infernalisch, dass der Nationalspieler Timo Werner vorzeitig zum Feld musste. Ohrenprobleme. Mittelfeldspieler Diego Demme ächzte: "Du kannst es vor Ort nicht glauben." Das war quasi die Warnung gewesen auch an die Bayern in dieser Achtelfinalrunde der Champions League: sich bloß eine gute Ausgangsposition fürs Rückspiel zu verschaffen. Der Stuttgarter Andreas Beck, der zwei Jahre selbst am Bosporus spielte, hatte im SZ-Interview gewarnt: "Wenn irgendein Stadion unmögliche Dinge möglich macht, dann dieses Stadion."

Als Reporter hat man daher das erste Mal überhaupt Ohropax eingesteckt für diese Reise nach Istanbul. Und im Laufe dieses Fußballabends, an dem es sportlich betrachtet zwar nicht um nichts ging nach dem 5:0 im Hinspiel, aber doch mit viel Lärm um wenig, ist man darüber bald auch sehr froh gewesen.

"Da hatte ich schon ein bisschen Druck auf dem Trommelfell"

Besonders das Pfeifen erinnert tatsächlich an einen startenden Flieger. Besiktas-Fans pfeifen oft. Sie pfeifen, wenn die Bayern den Ball führen, sie pfeifen, als die Mannschaften beim Stand von 0:1 in die Pause gehen, man weiß nicht so recht, wen genau sie auspfeifen, vermutlich sind sie, altes Bully-Herbig-Bonmot, mit der Gesamtsituation unzufrieden. Sie pfeifen auch nach dem Abpfiff, als die Stadionregie es wagt, orientalischen Pop einzuspielen, während sie noch singen wollen. Also wird der Pop wieder abgedreht. Die Macht der Fans: ein großes Thema bei Besiktas.

"Wenn sie gepfiffen haben, war es schon sehr laut", sagte Thomas Müller hinterher, "da hatte ich schon ein bisschen Druck auf dem Trommelfell", und da sei es dann "auch mit der Kommunikation schwierig" gewesen. Aber: Trotzdem habe er die Atmosphäre genossen. Das war überhaupt, anders als damals bei den Leipzigern, der Bayern-Tenor danach: dass man dankbar sei, diese fast surreale Art der Fan-Unterstützung mal mitzubekommen, wenn auch aus Gegner-Sicht. "Top-Stimmung, es macht Spaß, in so einem Stadion zu spielen", sagte etwa Jérôme Boateng. Und der wie immer sehr gut vorbereitete Mats Hummels twitterte tatsächlich 120 Sekunden nach dem Abpfiff: "You just have to love an atmosphere like this @Besiktas". Siegen und genießen.

Dass sie bei Besiktas gerne laut pfeifen, heißt nämlich nicht, dass sie nicht im nächsten Moment wieder singen wie ein gigantischer, entschlossener Chor. Fast kitschig war das gleich nach dem Anpfiff: als zu der Wucht der Schallwellen noch das Kunstlicht Zehntausender Smartphones im Taschenlampenmodus kam. Was nicht vergessen machen soll, dass es hier nicht immer so friedlich und "freundschaftlich" (Müller) zugeht: Wegen Randale dürfen den Klub keine Fans mehr zu Auswärtsspielen begleiten.

Aber an diesem Mittwochabend in Istanbul: kein einziges Bengalofeuer im Stadion am Bosporus. Bloß Handylichtsterne und sehr viel sehr schöner Lärm auf der anderen Seite der Gummipfropfen im Ohr.

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