Manuel Neuer stand auf dem Rasen in Augsburg zum Interview, er atmete kleine Wölkchen in die kalte Luft. Der Kapitän des FC Bayern hatte die so unangenehme wie unausweichliche Aufgabe, über die zwei Themen des Abends zu sprechen, und ob sie vielleicht doch etwas miteinander zu tun hatten. Die Niederlage. Und das Fehlen eines wichtigen Spielers. Der Torwart sagte im Interview mit dem Sender Dazn also: "Jo Kimmich wollen wir immer in der Mannschaft und auf dem Platz haben."
Es war jedenfalls eine Frage nach diesem 1:2 beim FC Augsburg, der zweiten Saisonpleite des deutschen Rekordmeisters in der Bundesliga, was Kimmich womöglich am Ergebnis geändert hätte. Der Nationalspieler und inzwischen seit Wochen unfreiwillig berühmteste Ungeimpfte im Land, seit die Bild seinen Status veröffentlichte, ist nun schon zum zweiten Mal binnen kurzer Zeit als Kontaktperson eines Corona-Infizierten in Quarantäne. Und das auch noch, während sich in Berlin offenbar das Vorhaben konkretisiert, dem Profifußball 2-G-Regeln aufzuerlegen.
Also: Hätte Kimmich in der Entstehung vor dem 0:1 irgendwo den Ball zurückgewonnen? Hätte er den Ball vor dem 0:2 nicht verloren, so wie sein Vertreter Marcel Sabitzer? Hätte er die Mannschaft brüllend und die Augen zusammenkneifend, Pässe hinter die tiefe Augsburger Abwehr schlagend, zu mehr angetrieben als zum 1:2-Anschlusstreffer vor der Pause durch Robert Lewandowski?
"Ich finde, dass das keine Ausrede ist", sagte Bayern-Trainer Julian Nagelsmann in der Pressekonferenz am Freitagabend. Kimmich, befand er, hätte sich ja auch im Abschlusstraining verletzten können, dann wäre der FC Bayern trotzdem angetreten. Und Corona gebe es überall auf der Welt, nicht nur beim deutschen Meister, dem ja auch die positiv getesteten und geimpften Josip Stanisic und Niklas Süle fehlen. Nein, Nagelsmann führte auf deutliche Art und Weise andere Gründe für diese Niederlage an. Er sagte: "Ich bin heute auch tatsächlich den ersten Tag als Bayern-Trainer richtig sauer auf uns."
Die Bayern unter Nagelsmann haben in dieser Saison schon begeisternden Fußball gespielt, sie bleiben an diesem Spieltag Tabellenführer, sie sind in der Champions League bereits sicher im Achtelfinale. Man sieht ihnen außerdem schon seit einiger Zeit die Ideen des neuen Trainers an, und oft wirkte es so, als würden diese Ideen das fußballerisch einzige Problem beheben können, das es unter Vorgänger Hansi Flick gab: viele einfache Gegentore nach ähnlichem Muster. Am Freitag allerdings sagte Nagelsmann, als er den Grund für seine Wut benannte: "Wir kriegen zu viele Gegentore, und das auf eine ganz einfache Art."
Das 0:1 fiel nach einem Ballverlust von Serge Gnabry in der gegnerischen Hälfte, den man wegen Foulspiels theoretisch auch hätte abpfeifen können, aber nicht abpfeifen musste. Danach griff Augsburg über die linke Seite an, im Strafraum schoss Mads Pedersen den freien Ball in die Ecke. Das 0:2 nach einem sorglosen Ballverlust Sabitzers in der eigenen Hälfte fiel wieder über die linke Seite, diesmal traf André Hahn per Kopfball.
Marcel Sabitzer wirkt noch nicht mit den Abläufen beim FC Bayern vertraut
Nagelsmann benannte auch das, was alle sahen: Sabitzer, 27, der Zugang von Nagelsmanns Ex-Klub RB Leipzig, wirkt noch überhaupt nicht mit den Abläufen in seiner neuen Mannschaft vertraut, tritt eher wie ein Hospitant auf, ohne die Pässe zu spielen und Wege zu gehen, die von einem Profi in Verantwortung verlangt werden. Im Sechserraum, also auf Sabitzers und Leon Goretzkas Position, habe die Mannschaft viel Platz "unglaublich schlecht genutzt", sagte Nagelsmann, viel rückwärts gepasst. Er sagte: "Sabi ist noch nicht an seinem Leistungslimit angekommen."
Doch es sei ihm "zu plakativ", sagte der Trainer, nur den Ballverlust zu kritisieren. Vielmehr hätten die übrigen Spieler, insbesondere auf der "ballfernen", also rechten Seite, nicht richtig abgesichert und auch nicht richtig auf den Ballverlust reagiert. In der Entstehung verglich der Trainer die Gegentore nicht nur mit jenen zuletzt bei den Siegen gegen Freiburg und Lissabon, sondern auch mit denen beim 0:5 im DFB-Pokal in Mönchengladbach, das bislang in jeder Hinsicht als sonderbares und abgesondertes Phänomen betrachtet worden war.
Thomas Müller, der erfahrene Erklärer von Bayern-Spielen, sprach in Augsburg gar von einem "bitteren Rückschlag in unserem Selbstverständnis". Er sagte: "Wenn du jedes Spiel das Gefühl hast, du kannst auf jeden Fall zwei, drei, vier Tore machen, dann ist deine Haupttugend vielleicht eben nicht die extreme Gier in der Defensive. Aber genau das ist eben nötig, um Spiele hier in Augsburg zu gewinnen."
Was in England die "cold, wet Wednesday night in Stoke" ist, der ultimative Härtetest für begabte Teams, das ist in Deutschland wohl der nasskalte Freitagabend in Augsburg, zu Gast bei den schier ewigen, grauen Abstiegskämpfern, die tief in der eigenen Hälfte verteidigen, dem Gegner auf den Füßen stehen und dann gemeinsam und gemein kontern. Augsburgs Trainer Markus Weinzierl, weiterhin verantwortlich für einen mutmaßlichen Abstiegskandidaten, sprach nach einer hervorragenden Leistung seines Teams von einem "Feiertag".
Den Bayern steht nun am Dienstag ein nasskalter Abend in der Champions League in Kiew bevor, weiterhin ohne Kimmich. Am Samstag standen Training und Analyse in München auf dem Programm. Mit außerplanmäßigen Inhalten, wenn man Julian Nagelsmann richtig verstand.