Süddeutsche Zeitung

La Liga:Barça kämpft gegen sich selbst

Messi erzielt beim 2:2 gegen Atlético sein 700. Tor, doch die Chancen auf die Meisterschaft schwinden. Trainer Setién hat das Vertrauen des Teams verloren.

Von Javier Cáceres

In welchen Fahrwassern sich der FC Barcelona gerade bewegt, ließ sich Dienstagnacht unter anderem an den letzten Momenten der Partie gegen Atlético Madrid ablesen. Fünfunddreißig Minuten waren vergangen, seit der französische Weltmeister Antoine Griezmann sich an der Seite warmgelaufen hatte. Doch erst als die letzte Minute der regulären Spielzeit lief, wechselte Trainer Quique Setién ihn auch ein, in der vagen Hoffnung, er möge noch das 2:2-Unentschieden korrigieren.

Griezmann, man erinnert sich, war Barças Stareinkauf des vergangenen Jahres. 120 Millionen Euro Ablöse flossen, an Atlético Madrid übrigens. Und nun erhält ausgerechnet er nur ein paar Minuten Nachspielzeit? Weniger sogar als das Starlet Ansu Fati, der immerhin in der 85. Minute aufs Feld durfte? Dass Griezmann dies ertrug und ungerührt aufs Feld lief, zählte zu den erstaunlichsten Leistungen eines Abends, an dem Barça Real Madrid die Vorlage lieferte, die Tabellenführung bei fünf verbleibenden Spielen auf vier Punkte auszubauen.

"Barça holt die weiße Fahne raus", jauchzte die Madrider Sportzeitung Marca am Tag nach der offenkundigen Kapitulation. In Barcelona wollte niemand mehr den Schiedsrichter zum Thema machen, obwohl beide Ausgleichstreffer Atléticos auf umstrittenen Elfmetern beruhten, die Saúl Níguez verwandelte (19./62.). Den ersten ließ der Referee wiederholen, weil sich Barça-Torwart Marc-André ter Stegen bei seiner Parade von der Linie entfernt hatte. Und ob beim zweiten Strafstoß wirklich ein Foul von Semedo an Carrasco zugrunde lag, ist fraglich.

"Griezmann? Ohne Worte", sagt sein früherer Trainer Simeone

Die Spirale der Negativität, die den FC Barcelona erfasst hat, ist von einer solchen Dynamik, dass nichts Trost spenden kann. Der hochverschuldete Verein hat finanziell durch die Corona-Krise schwerste Schlagseite bekommen; aber schon vorher wurde auf allen Ebenen gestritten. Die Vereinsführung liegt mit der Mannschaft über Kreuz, und diese wiederum mit dem Trainerteam um Quique Setién.

Vor ein paar Tagen wurde ein Video publik, auf dem zu sehen war, wie ein sichtlich grollender Lionel Messi in einer Spielpause vor dem impulsiven Assistenztrainer Edu Sarabia Reißaus nimmt, als der ein paar Anweisungen geben wollte. Dass Griezmann, 29, nicht nur nicht von Anfang an spielen durfte, sondern gedemütigt wurde, scheint auch mit den inneren Krämpfen und Kämpfen im Klub zu tun zu haben. Vorsichtig deutete El País an, dass die Aufstellung gegen Atlético einer Art Konsens zwischen den widerstreitenden Kräften geschuldet gewesen war, der Opposition der heiligen Kühe der Kabine gegen Griezmann: Sie hatten sich eine Rückkehr des ehemaligen Kameraden Neymar Jr. (Paris Saint-Germain) gewünscht und konnten schon gar nicht verstehen, dass sie auf Gehalt verzichten mussten, nachdem der Vorstand viel Geld verpulvert hatte, unter anderem auch für Griezmann.

Zusammengefasst: Der erst seit Januar amtierende und zunehmend umstrittene Setién hat die Kontrolle über sein Hoheitsgebiet vielleicht sogar schon endgültig verloren. Es sei "nicht logisch" gewesen, Griezmann so spät einzuwechseln, sagte Setién nach der Partie, aber es könnten nun mal nicht alle spielen. Atlético-Trainer Diego Simeone, unter dem Griezmann zum Weltstar gereift war, gab sich perplex. "Griezmann? Ohne Worte", sagte der Argentinier, nachdem sein Landsmann Messi im Kabinentunnel verschwunden war.

Es schien Messi kaum aufzumuntern, dass er nun in der Addition aus Pflichtspieltoren für Barça und den Treffern für Argentiniens Nationalelf die magische Zahl von 700 Toren erreicht hat. Erst hatte er Barças Führung durch eine Ecke vorbereitet, die Diego Costa ins eigene Tor lenkte. Dann erzielte er auch das zwischenzeitliche 2:1 per Elfmeter, den er durch einen so subtilen Stoß gegen den Ball verwandelte, dass sich viele an den berühmten Elfmeter von Antonin Panenka aus dem EM-Finale von 1976 gegen Deutschland erinnert fühlten, und einige wenige an ein Wort, das der frühere argentinische Trainer und Fußballphilosoph Ángel Cappa vor Jahren prägte: Das Geräusch, als Messis Fuß den Ball berührte, war "so sanft wie eine Rolls-Royce-Tür, die ins Schloss fällt".

Dass Messi nach dem Tor strahlte, war nachvollziehbar. Seit Wochen wartete er auf Tor Nummer 700, das er nun 15 Jahre nach seinem ersten Treffer erzielt hat. Messi ist längst der beste Torschütze der spanischen Liga (441) - und hält fast jedem Vergleich stand. Cristiano Rolando, Messis großer Widersacher der letzten Jahre und zurzeit bei Juventus Turin tätig, liegt bei gleichfalls phänomenalen 728 Treffern; er hatte sein 700. Tor im 974. Spiel erzielt, Messi liegt bei 862 Partien.

Nur ein paar aus der Galerie der Größten der Geschichte liegen vor ihnen: Gerd Müller (735) und Ferenc Puskas (746), ebenso Pelé (767), Romário (772) und der österreichisch-tschechoslowakische Josef Bican, der zwischen den 1930er und 1950er Jahren auf 805 Tore kam. In einer Facette hat Messi den "Bomber" Müller übertroffen: 2012 schaffte er 91 Tore in einem Kalenderjahr, Müller war anno 1972 auf 85 gekommen. Aber es sind eben nicht die persönlichen Rekorde, die Messi interessieren. Sondern die Titel. Und das lässt ihn grollen.

Der Pokal in Spanien ist bekanntlich schon perdu, die Meisterschaft nun wohl auch, bleibt nur noch die Champions League. Barça muss noch das Achtelfinalrückspiel gegen den SSC Neapel bestehen (Hinspiel 1:1), um es überhaupt ins "Final 8" der Königsklasse zu schaffen, das im August in Lissabon ausgetragen wird.

Ob das mit Trainer Setién, 61, zu erreichen ist, gilt als fraglich. Teile der Mannschaft stellen seine Methodik und seine Taktik infrage, seine Erläuterungen gelten als zu philosophisch und praxisfern, selbst an der Vereinsspitze hält man seine Verpflichtung für einen Bock. Vor ein paar Tagen wartete die Klubikone Xavi Hernández mit der Bemerkung auf, er bereite sich gezielt auf den Trainerjob bei Barça vor; dass er unter der aktuellen Führung zurückkehrt, gilt aber als ausgeschlossen. Am Dienstag verlängerte Barcelona den Vertrag des Trainers der zweiten Mannschaft, Francisco Javier García Pimienta alias "Pimi", 45. Er gilt als Kandidat für den Fall, dass Setién doch gehen muss. Denn dass Setién meint, "nicht infrage gestellt" zu sein, wie er am Dienstag sagte, hat er sehr exklusiv.

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SZ vom 02.07.2020/chge
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