Lionel Messi:Der Ball fliegt, wohin er den Blick lenkt

Lesezeit: 4 min

Lionel Messi steht vor seinem 700. Spiel für den FC Barcelona. (Foto: dpa)
  • Gegen den BVB wird Lionel Messi voraussichtlich sein 700. Pflichtspiel für Barcelona bestreiten.
  • Momentan erfreut sich die prägende Gestalt der letzten Jahre noch bester Gesundheit, aber auch seine Rente naht.
  • Darüber - und über die aktuelle Verfassung des Teams - machen sie sich beim FC Barcelona einige Gedanken.

Von Javier Cáceres

Seine Fähigkeit, andere zu überraschen, ist ungebrochen. Selbst jene, die mit ihm zusammenarbeiten, im Grunde täglich mit ihm zur Schicht fahren, staunen noch über ihn, als sähen sie ihn zum ersten Mal. Neulich war das gut zu beobachten, eingefangen durch Kameras eines spanischen TV-Senders, beim Spiel des FC Barcelona gegen Celta de Vigo.

Luis Suárez, uruguayischer Mittelstürmer des FC Barcelona, saß beim 4:1 noch auf der Ersatzbank, in der zweiten Reihe. Doch als Lionel Messi den 34. Hattrick seiner nahezu unvergleichlichen Karriere erzielte, nach einem Elfmeter auch noch zwei Freistöße direkt verwandelte, da entfuhr, wie von den Redakteuren der Sportsendung El día después mühelos zu entziffern war, seinem Freund und Nachbarn ein sehr derbes und im spanischen Sprachraum sehr übliches Syntagma: "¡Qué hijo de puta!", rief Suárez.

Der Beginn einer Ära: Lionel Messi jubelt 2005 mit 17 über sein erstes Tor für Barcelona. (Foto: imago)

Am Mittwoch wird Messi wieder auflaufen, mutmaßlich an der Seite von Luis Suárez, und gegen Borussia Dortmund sein 700. Pflichtspiel für den FC Barcelona betreiben. Für die Anhänger Barças ist das mehr denn je eine beruhigende Nachricht. Denn Messi ist die wohl letzte Versicherung, die den Anhängern Barças bleibt.

Das gepflegte Passspiel? Es war einmal

Zwar ist der FC Barcelona Tabellenführer der spanischen Liga und liegt auch in der Vorrundengruppe F der Championes League vorn. Aber in der Primera División haben die Katalanen nach 13 Spieltagen nur 28 Punkte gesammelt, genau wie der Erzrivale Real Madrid auf Tabellenplatz zwei. Und in der Champions League gab es in vier Spielen auch zwei Unentschieden, darunter daheim gegen Slavia Prag. Die Lage ist so ernst, dass Beobachter wie der Schriftsteller Jordi Puntí längst Anleihen bei Antonio Gramsci nehmen. Nicht etwa, weil der marxistische Philosoph und Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens den Fußball vor rund einem Jahrhundert als "ein menschliches Reich der Fairness" pries. Sondern weil er sich beim Studium der Lage im Camp Nou an die Lektüre der berühmten "Gefängnishefte" Gramscis erinnert fühlte. Oder genauer: an Gramscis Definition der Krise, die ja darin bestehe, "dass das Alte stirbt und das Neue nicht geboren werden kann".

Nun erfreut sich Messi, Barças prägende Gestalt der vergangenen 15 Jahre, bester Gesundheit. Aber mehr noch als Messis Alter, 32, belegt eben die Zahl 700, dass sich der FC Barcelona in einer Übergangsphase befindet, die man sogar als Krise bezeichnen kann. Wie nahe die Rente Messis liegen muss, lässt sich daran erkennen, dass es nur einen Spieler in der Geschichte des FC Barcelona gegeben hat, der mehr Spiele bestritten hat: Xavi Hernández, der mittlerweile in Katar als Trainer arbeitet und in der katalanischen Hauptstadt auf 767 Einsätze gekommen war.

Mit diesem Xavi, der Barcelona vor vier Jahren verließ, balgte er sich einst um die Ausführung der direkten Freistöße; mittlerweile hat Messi in dieser Kunstform eine solche Meisterschaft entwickelt, dass niemand mehr den Ball reklamiert, wenn er in Strafraumnähe des Gegners ruht. Barcelona hat nur eines seiner letzten elf Spiele verloren (Anfang November, 1:3 in Levante) und daheim seit einem Jahr oder 28 Spielen nacheinander nicht verloren. Doch die Qualität des Spiels, der in Barcelona stets eine größere Rolle zukam als an anderen Standorten, lässt eingestandenermaßen zu wünschen übrig. "Wir sind in einer Verfassung, in der Siege wichtiger sind als das Spiel", sagte in diesen Tagen Abwehrchef Gerard Piqué. Das gepflegte Passspiel? Es war einmal. Was sich auch daran ablesen lässt, dass sechs der letzten sieben Tore des FC Barcelona durch so genannte Standardsituationen zustande kamen.

Kurios daran: Beim FC Barcelona heißt es, dass Freistöße und Eckbälle nicht einmal intensiv trainiert werden. "Wir legen im Training keine große Betonung auf die Standards", zitierte El País am Dienstag einen namentlich nicht genannten Akteur Barças: "Es ist nur so, dass der beste Spieler der Welt bei uns spielt, der in der Lage ist, den Ball genau dorthin zu platzieren, wohin er den Blick lenkt." Messi also, der zwar, obschon er beim letzten, mühsamen 2:1-Sieg Barcelonas beim Tabellenletzten Leganés leer ausging, in den jüngsten zehn Spielen mit seinem Klub und der argentinischen Nationalmannschaft elf Treffer erzielt hat. Der aber selbst mit solchen Zahlen nicht dafür sorgen kann, dass die Dissonanzen im Spiel übertönt werden.

Es ist wohl auch nur Ausfluss dessen, dass der Verein sich nachvollziehbarerweise schwer damit tut, die Post-Messi-Ära zu gestalten. Im Sommer kam der Franzose Antoine Griezmann von Atlético Madrid, doch der gestand soeben ein, dass er noch immer die Laufwege der Kameraden nicht hinreichend gut entziffern kann, was zum Teil die aktuellen Probleme Barcelonas erklärt. Der zu Saisonbeginn hochgejazzte Jugendliche Ansu Fati ist Ende Oktober 17 Jahre alt geworden, aber zuletzt abgetaucht. Und die beiden Spieler, die den einst als Kronprinzen ausersehenen Neymar Jr. ersetzen sollten, als dieser für 222 Millionen Euro nach Paris wechselte, haben die Erwartungen enttäuscht.

Der frühere Dortmunder Ousmane Dembélé ist bei wohlwollender Betrachtung ein Versprechen geblieben, der Brasilianer Philippe Coutinho ist mittlerweile an den FC Bayern verliehen worden. Dass Messi sich, wie die Zeitschrift France Football am Dienstag berichtete, im Mai telefonisch an Neymar gewandt und diesem gesagt habe, dass er in zwei Jahren den Staffelstab übernehmen solle, Messi also quasi selbst ein Verfallsdatum in eigener Sache in den Raum gestellt habe, wurde flugs von Messis Umfeld dementiert.

So oder so wird Messi, der in 699 Spielen seit Oktober 2004 die sagenhafte Zahl von 612 Toren für Barça erzielt hat, nur noch für einen überschaubaren Zeitraum zaubern. Denn die Mühlen des Alters wird auch er nicht überwinden können. Und der BVB darf gewarnt sein: Noch nie, wenn Messi eine Hundert vollmachte, hat er verloren - und nur einmal (2008 gegen Valencia) Remis gespielt.

© SZ vom 27.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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