FC Barcelona:Immer noch besser

Mit 31 hört Lionel Messi nicht auf, die Welt zu verblüffen: Er schießt einen magischen Freistoß - und hat die Macht des Wortes entdeckt.

Von Javier Cáceres, Barcelona

Eines Tages wird man womöglich sagen, dass man den unentzifferbaren Gedanken Leo Messis nie so nahe war wie an diesem Mittwochabend. In jenem Augenblick, als im Camp Nou die 82. Minute des Halbfinal-Hinspiels der Champions League zwischen dem FC Barcelona und dem FC Liverpool lief; in jenem Augenblick, als sich so etwas wie Stille über ein Rund legte, das mit 98 000 Zuschauern gefüllt war. 29 Meter vor dem Tor des Liverpooler Keepers Allison legte sich Messi den Ball für einen direkten Freistoß zurecht. Allison richtete die Mauer, wie es den allgemeinen Dienstvorschriften für Fußballtorhüter entspricht, er stellte sich zentral auf die Linie und erwartete den Ball exakt dort, wo ihn 98 000 weitere Menschen auch erwarteten. Wo sie, wenn sie könnten, den Ball ebenfalls hinträumen würden.

Hinterm Tor klatschten Fans zum Rhythmus einer Trommel, doch alle Blicke ruhten auf ihm, der alles auszublenden vermag: 98 000 Augenpaare, Kameras, grelle Lichter im Nacken. Messi nahm Anlauf.

Er stieß mit dem linken Fuß gegen den Ball, dessen Flugbahn eine Parabel umschrieb, die logischer und perfekter war, als jede Mathematik sich das ausdenken könnte. Ja, der Ball senkte sich in den Winkel. Ja, Allison flog dorthin und streckte den Arm aus, um dann geschlagen zu Boden zu sinken. Und ja, die Stille verwandelte sich in das unbeschreibliche "Delirium", das die Zeitung Sport am Donnerstag auf seine Titelseite hob.

Es war dies nicht nur der Treffer zum 3:0 für Barcelona. Es war auch nicht nur der Treffer, der das Tor zum Champions-League-Finale so weit aufstieß, dass nur schwer vorstellbar ist, wie Liverpool den Katalanen im Rückspiel noch den Weg versperren könnte. Es war vor allem das x-te Zeugnis einer epochalen, immer wieder ergreifenden Außergewöhnlichkeit. "Messi ist von einem anderen Planeten", sagte Arturo Vidal, der frühere Bayern-Profi, der von Messi in der 63. Minute zusammengefaltet worden war, weil er den Ball im Strafraum quergelegt hatte. "Schieß' doch selbst!", war auf Messis Lippen zu lesen.

Das war eines dieser Details, die eine fast unfassbare Evolution Messis markierten. Er ist nun schon 31 Jahre alt, er steht seit über einem Jahrzehnt an der Spitze des Weltfußballs, hat auf den Tag genau in 14 Jahren 600 Pflichtspieltore geschossen. In 683 Spielen. Er war einmal ein Kind mit Wachstumsproblemen und ist zu einem Giganten herangewachsen, der nicht nur "jedes Wochenende Maradona ist", wie es sein argentinischer Landsmann Jorge Valdano schon vor Jahren sagte. Sondern der jedes Wochenende aufs Neue den Schauder erweckenden Eindruck hinterlässt, seine Entwicklung sei noch immer nicht abgeschlossen. Messi verblüfft immer wieder.

Die besten Torschützen der Champions League

1. Cristiano Ronaldo (Portugal) 126

2. Lionel Messi (Argentinien) 112

3. Raúl (Spanien) * 71

4. Karim Benzema (Frankreich) 60

5. Ruud van Nistelrooy (Niederlande) * 56

6. Robert Lewandowski (Polen) 53

* nicht mehr aktiv

Die Erörterungen über die verschiedenen Versionen Lionel Messis erinnern bald an umfassendste kunsthistorische Studien über die unterschiedlichen Schaffensperioden Pablo Picassos. Barcelona ist eine Stadt, die glaubt, alles über Messi gehört, gelesen und gesagt zu haben. Die behauptet, Messi könne übers Wasser gehen, wie La Vanguardia am Donnerstag schrieb. Und dann meldet er sich doch zurück, mit einer Neuerung, die staunen lässt.

Messi begann als filigraner Außenstürmer, wurde zum falschen Neuner, zum Zehner, zu allem, was die Enzyklopädie des Fußballs hergibt. Am Mittwoch stellte ein Statistiker fest, er habe in 15 von 24 "Fifty-fifty"-Situationen den Ball gewonnen - also nicht nur mit feinem, sondern auch mit festem Fuß agiert. Er grätschte, arbeitete, beugte sich erschöpft, dass man meinte, er klappe gleich zusammen, und stand dann doch wieder auf. Um einen Leader zu geben, der er geworden ist und der anders als früher nicht nur mit Taten predigt.

Denn er, der nie den Mund aufbekam, hat die Macht des Wortes entdeckt. Am Mittwochabend rief er, ehe das Spiel begann, die Mannschaft zum Kreis zusammen und richtete eine minutenlange Rede ans Team. Und als ihm nach dem Spiel ein Mikrofon hingehalten wurde, rügte er das Publikum für die Pfiffe gegen den enttäuschenden Coutinho. Man sei in der entscheidenden Phase der Saison, "da müssen wir vereint sein", sagte Messi.

Er knüpfte damit an seine Rede zu Saisonbeginn an: Damals hatte er im Camp Nou das Mikro in die Hand genommen und der Menge gesagt, dass man alles dafür tun wolle, "diesen schönen, ersehnten Pokal" wieder nach Barcelona zu holen. Zum ersten Mal nach 2015, dem bisher letzten Champions-League-Triumph Barcelonas. Die Botschaft hatte die Branche in Alarmstimmung versetzt. "Ich habe das damals als Drohung verstanden", hatte Liverpools Trainer Jürgen Klopp am Vorabend der Partie gesagt. Nach der Partie blieb ihm nur die Flucht in Ironie: "Dass er Weltklasse ist, hat mich nicht so sehr überrascht."

FC Barcelona - FC Liverpool

„Dass er Weltklasse ist, hat mich nicht so sehr überrascht", sagte Jürgen Klopp nach dem Spiel über Messi.

(Foto: Manu Fernandez/dpa)

Sogar das prosaische Tor zum 2:0 hatte ein Element von Weltklasse, wie Klopp sagte: In der 75. Minute stand Messi mit frappierender Pünktlichkeit am richtigen Ort, als die Querlatte einen Schuss des Führungsschützen Luis Suárez (24.) zurück ins Feld prallen ließ. Dann folgte die 82. Minute, der Augenblick der Poesie, der Freistoß.

"Der ist mir spektakulär gelungen", sagte Messi später selbst und klang dabei fast so, als sei ihm der Kunststoß so rausgerutscht. "Ich hab's drauf angelegt und hatte Glück, dass er genau dort reingeflogen ist". - "What a strike ...! - was für ein Treffer... !", stöhnte Klopp.

Messi legte damit einen Schatten über das Camp Nou, der alles verschlang. Liverpools sehr gute Leistung. Die überragenden statistischen Werte von Sergio Busquets (100 prozentige Erfolgsquote bei Tacklings, 91-prozentige Passquote), die Weltklasseparaden von Barças deutschem Nationaltorwart Marc-André ter Stegen gegen James Milner und Mo Salah, die Leidensfähigkeit Barcelonas, die taktische Finesse von Trainer Ernesto Valverde, der mit der überraschenden Hereinnahme von Vidal so richtig lag wie mit der Entscheidung, im Verlauf der Partie von einem 4-3-3-System auf ein 4-4-2 umzustellen, um die linke Seite unter Kontrolle zu bringen, wo Mané und Robertson zuvor ein Loch nach dem anderen gerissen hatten. Aber dann war da eben auch Messi.

"Es gibt keine Antwort auf ihn, ich bin froh, nicht jede Woche gegen ihn spielen zu müssen", sagte Virgil van Dijk, der niederländische Abwehrchef des FC Liverpool. Messi sei "ein Genie", erklärte Barcelonas Präsident Josep Maria Bartomeu schlicht.

Was das ist, ein Genie?

"Im Fußball bezeichnen wir den als Genie, der sich nicht an ein Muster hält und der Dinge in die Normalität integriert, die magisch erscheinen. Und dabei ein entspanntes Gefühl der Natürlichkeit vermitteln, wenn sie das Unmögliche tun", schrieb Valdano kürzlich in El País und fasste seine Genie-Definition so zusammen: "Messi." Wie zu beweisen war.

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