Als Finn Dahmen vor drei Wochen im Aktuellen Sportstudio des ZDF saß, musste er auch die Sache mit dem linken Zeigefinger erklären. Immer wieder ist zu beobachten, wie sich der Torwart des FC Augsburg beim Aufwärmen vor den Spielen den Finger vor sein Gesicht hält. Das wirkt etwas entrückt, als hypnotisiere oder ermahne Dahmen sich selbst. Der 27-Jährige legt dann den Blick eines Tagträumers auf, nur dass er nicht ins Leere starrt, sondern auf seinen erhobenen linken Zeigefinger. „Das sieht vielleicht ein bisschen komisch aus“, räumte Dahmen lachend ein, aber er werde das weiterhin tun. Denn diese Übung des Neuroathletiktrainers Malte Hartmann helfe ihm, stabil und im Gleichgewicht zu sein.
Die Fingerübung ist ein Puzzlestück im großen Bild, das Dahmen und der FCA vor dem Heimspiel am Ostersonntag gegen Eintracht Frankfurt abgeben. Mit 42 Punkten haben die Augsburger die Versetzung bereits sicher und die drittbeste Bilanz in ihren 14 Bundesligajahren. Nur 2014 (52 Punkte) und 2015 (49) fiel der Ertrag am Saisonende höher aus. Vor zehn Jahren hatte das die bisher einzige Qualifikation für den Europapokal zur Folge. Die Chance darauf besteht auch jetzt. Der Rückstand auf den ersten sicheren Startplatz beträgt drei Zähler. Sportdirektor Marinko Jurendic hat die 50 Punkte als „unser nächstes Ziel“ ausgerufen. Trainer Jess Thorup nennt den Einzug in den Europapokal zwar nicht als Ziel, will aber „so ambitioniert wie möglich“ sein sowie „angreifen und auf Jagd gehen“. Und Dahmen verspricht vor dem „Höhepunkt-Spiel“ gegen den Tabellendritten: „Wir werden alles geben, um noch den ein oder anderen Platz nach oben zu klettern.“
Es ist vor den letzten fünf Spielen der Saison gegen Frankfurt, in Leverkusen, gegen Kiel, in Stuttgart und gegen Union zwar weiterhin ein schwieriges Unterfangen, den Europapokal zu erreichen. Aber feststellen lässt sich schon jetzt: Wenn der FCA das schaffen sollte, hätte das viel mit Dahmen zu tun. Allein zum jüngsten 2:1-Sieg beim VfL Bochum leistete er mit acht Paraden einen immensen Beitrag. Das Fachblatt Kicker kürte ihn danach zum Spieler des Tages in der gesamten Bundesliga. Auch übergeordnet entfällt auf ihn ein erheblicher Anteil am Teamerfolg.
Das ist umso bemerkenswerter, weil Dahmen lange auf seinen Durchbruch warten und nach Jahren als Nummer zwei beim 1. FSV Mainz 05 auch in Augsburg einige Rückschläge hinnehmen musste. Dort wurde ihm nach seinem Wechsel im Sommer 2023 erstmals in der Bundesliga die Rolle als Nummer eins anvertraut. Doch erstens lief seine erste Saison als Stammkeeper eher mittelmäßig. Und zweitens zog er sich vor einem Jahr eine Sprunggelenksverletzung zu, die eine Operation erforderte und ihn monatelang in den Krankenstand versetzte. Hinzu kam zu allem Überfluss eine Schulterblessur. Als Dahmen wieder einsatzbereit war, musste er sich hinter Zugang Nediljko Labrovic anstellen. Doch Dahmen ließ sich nach seiner bisher schwersten Verletzung der Karriere nicht entmutigen und arbeitete weiter an sich, auch an Details wie mit der Fingerübung.
Für die Spiele in der Nations League gegen Italien befand er sich als Nummer vier auf Abruf
Umso erstaunlicher, wie Dahmens Karriere in diesem Jahr an Fahrt aufgenommen hat, seit Thorup ihn nach der Winterpause wieder zur Nummer eins beförderte. Seither hat der FCA 26 Punkte in 14 Bundesligaspielen gesammelt. Nach nur drei Gegentoren in den ersten elf Ligaspielen des Jahres verfügten die Augsburger sogar über die beste Abwehr in Europa, maßgeblich auch dank Dahmen und nicht allein wegen seiner Paraden und Stärken im Eins gegen eins. Er wirkt inzwischen auch bei Flanken stabiler. Zwischenzeitlich blieb er 683 Minuten ohne Gegentor, gut siebeneinhalb Spiele lang. Nur drei Torhüter waren in der Bundesliga-Geschichte besser: der ehemalige Stuttgarter und Rekordhalter Timo Hildebrand (884 Minuten im Jahr 2003) sowie je zweimal für den FC Bayern Oliver Kahn (802 und 736 Minuten) und Manuel Neuer (770 und 688 Minuten). Alle sind ehemalige deutsche Nationaltorhüter.
Mittlerweile ist auch Dahmen in den Fokus des DFB-Teams geraten. Für die beiden Spiele in der Nations League gegen Italien Ende März befand sich der U21-Europameister von 2021 als Nummer vier auf Abruf. Sein Augsburger Torwarttrainer Marco Langner hatte ihm die frohe Kunde erst nach dem Spiel gegen Wolfsburg überbracht, „weil er Angst hatte, dass ich mich vielleicht ein bisschen zu sehr freue und nicht so gut schlafen kann vorm Spiel“, wie Dahmen erzählte. Da seine Mutter Engländerin ist, käme er auch für die Three Lions infrage. Mit DFB-Torwarttrainer Andreas Kronenberg hat Dahmen schon telefoniert. Zu Englands Nationalcoach Thomas Tuchel gab es noch keinen Kontakt.
Beim FCA wünschen sie Dahmen, dass er mittelfristig berufen wird. Dahmen sei nicht nur „Everybody’s Darling oder Schwiegermuttersohn Nummer eins“, sagt Geschäftsführer Michael Ströll, „er ist prädestiniert dafür, deutscher Nationalspieler zu werden“. Und für den ehemaligen Nationaltorhüter Uli Stein ist Dahmen „mehr als nur ein Name für den Notizblock. Augsburgs Höhenflug ist gleichermaßen sein Aufschwung.“