Am Samstag schauen viele Menschen auf Augsburg: Im bayerischen Derby kann der FC Bayern Meister werden. Danach werden wieder weniger Menschen hinschauen. Denn der FC Augsburg ist im sicheren Tabellenmittelfeld an Entscheidungen im Saisonfinale kaum beteiligt. Der Schriftsteller und Dramatiker Michel Decar ist in Augsburg geboren und als Jugendlicher dort ins Stadion gegangen. Zuletzt hat er das Stück "Philipp Lahm" geschrieben, ein vergiftetes Lob der Langeweile, inszeniert am Münchner Residenztheater. Aus Berlin beobachtet er den FCA.
SZ: Herr Decar, könnten Sie sich vorstellen, ein Theaterstück über den FC Augsburg zu schreiben?
Michel Decar: Was soll das werden? Ein Arthouse-Sozialdrama? Sorry, aber ich fürchte, da fehlt dem Verein die nötige Fallhöhe, da ist er zu sehr die graue Maus der Bundesliga. Keine Tragik, keine Pokale, über was soll man da schreiben?
Immerhin ist der FCA seit 2011 ununterbrochen in der ersten Liga und stand 2016 im Sechzehntelfinale der Europa League gegen den FC Liverpool.
Ja, gar nicht schlecht.
Andererseits scheint am Image als graue Maus etwas dran zu sein. Als Einziger der 18 Bundesligisten durfte Augsburg seit der Saison 2015/2016 kein sogenanntes Top-Spiel zur 18.30-Uhr-Sendezeit am Samstagabend bestreiten.
Der FCA hat ja sogar graue Trikots! Welcher Verein macht sich freiwillig graue Trikots? Das fällt einem doch nur ein, wenn man das Hannover des Südens sein will. Bisschen mausig, bisschen bieder, unter dem Radar fliegen als Überlebensstrategie, so würde ich das nennen. Andererseits muss es diese mausigen Vereine auch geben im Welttheater Bundesliga. Was sollen sie schon machen mit dem fast kleinsten Budget der Liga, außer sich durchzufuchsen? Man wundert sich jedes Jahr aufs Neue, wie sie es wieder geschafft haben.
Dass sie es dieses Jahr wieder schaffen, daran dürfte kein Zweifel bestehen. Augsburg ist mit 36 Punkten Zehnter, genau in der Mitte der Tabelle, mit einem beinahe ausgeglichenen Torverhältnis, ohne Chancen in Richtung Europapokal, ohne Risiko in Richtung Abstieg. Hat das nicht auch seinen Charme?
Wenn man nett ist, würde man sagen, es hat etwas Charmantes. Wenn man nicht so nett ist, dann hat es etwas Uninteressantes. Ich glaube, man muss dazu Folgendes verstehen: Die komplette Augsburger Identität gründet sich auf einem historisch bedingten Minderwertigkeitskomplex. Augsburg war ja in der Renaissance ein Handelszentrum, eine Metropole, während München noch ein Dorf war. Aber nach und nach wurde dieser Augsburger Status einkassiert. Und jetzt sind sie geografisch und politisch im Windschatten von München. Diese Windschattenidentität überträgt sich in gewisser Weise auch auf den Sport, würde ich sagen. Und da haben sich die Augsburger jetzt eingerichtet, die fühlen sich wohl in ihrer Nische, sind auch gerne der Underdog.

In ihrem Stück "Philipp Lahm" lassen Sie den Protagonisten auf der Bühne sagen: "Manche sagen, ich bin so langweilig, dass es weh tut. Ist doch geil!"
Ja, das ist das Grundprinzip der Augsburger Identität. Wenn es ein Vereinsmotto geben würde, dann wäre es, in einer Reihe mit dem "Mia san mia" des FC Bayern oder der "echten Liebe" bei Borussia Dortmund: "FC Augsburg - schon ganz okay".
Also wünschen sich die Augsburger nicht den Ruhm zurück und hoffen auch nicht insgeheim, dass ihr Verein Geld in die Hand nimmt, um Titel zu gewinnen?
Ich glaube, sie wollen das gar nicht. Angenommen, die 50+1-Regel würde eines Tages doch fallen und es würden reiche Investoren in Augsburg einsteigen: Das würde nicht klappen bei diesem Klub. Bei anderen Vereinen aus dem Mittelmaß schon. Die Hertha zum Beispiel, die hat ja einen totalen Minderwertigkeitskomplex. Weil die Berliner als gefühlt einzige Hauptstadt Europas nicht in der Champions League spielen, würden sie jeden Investor mit Kusshand nehmen, 50+1 weg, wen interessiert's, Hauptsache, endlich was reißen. In Augsburg würden sie sich das selbst gar nicht zutrauen. Die wüssten ja gar nicht, was sie mit den Millionen kaufen sollen. So sehr ich es ihnen wünschen würde, mal eine Million mehr zu haben.
Vielleicht ist das Image auch deshalb noch nicht ganz definiert, weil der FCA als Profiklub relativ jung ist. Erst durch den Einstieg des Investors Walther Seinsch gelang 2002 der Wiederaufstieg in die Regionalliga, dem weitere Aufstiege folgten.
Die Augsburger sind noch am Anfang in dem Prozess, klarzustellen, wer sie sein wollen. Auch von ihrer Spielphilosophie her. Ich war in dieser Saison zweimal im Stadion und habe zwei 3:0-Heimsiege gesehen, gegen Köln und Frankfurt. Und ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, wie sie das angestellt haben. Bei jedem Tor dachte ich mir nur: Wie haben sie den jetzt eigentlich reingemacht?
Spricht für eine raffinierte Taktik.
Ja? Was spielt der FCA denn für einen Stil?
Manager Stefan Reuter sagt: "Seit Jahren spielen wir gepflegten Fußball und versuchen, aus guter Kompaktheit schnell umzuschalten."
Wenn er das sagt, wird's wohl stimmen.
Niemand scheint je etwas Schlechtes über Augsburg zu sagen. Bodenständigkeit, Vernunft und Ruhe werden stets gelobt.
So ein paar kleine Skandale gibt es ja schon. Als Dirk Schuster ( Trainer zu Beginn der vergangenen Saison, Anm.) entlassen wurde und vorher zum Training mit einem blauen Auge erschien, mitten in der Saison, das war merkwürdig. Und jetzt den Rechtsverteidiger...

...Daniel Opare, der sich mit Verantwortlichen des FC Schalke traf und danach gelogen haben soll...
...den haben sie rausgeschmissen. Und standen in der Presse wieder super da.
Bräuchte Augsburg also mehr Drama, um auch in Berlin die Menschen zu packen?
Schön wär's, ich würde es ihnen wünschen. Deswegen schaut man doch Fußball, deshalb schaltet man doch ein, für die Tragik, für die Spannung bis zum Schluss.
Fehlt für ein Drama in Augsburg der passende Held?
Philipp Max wird im Sommer weg sein, oder? Finnbogason wahrscheinlich auch. Manuel Baum, ja, der passt schon. Aber was das mit dem Burberry-Schal soll, warum er sich gerade den als sein Markenzeichen ausgesucht hat, das weiß ich echt nicht. Mit so einem Schal kann man von mir aus in München-Bogenhausen Gassi gehen, aber doch nicht an der Seitenlinie stehen und coachen.
Sehen die Augsburger ihren Klub denn kritisch? In Hamburg drohen demnächst viele Tränen zu fließen, wenn der HSV tatsächlich absteigen sollte. Wie wäre das in Augsburg beim ersten Abstieg aus der ersten Liga seit dem Aufstieg 2011?
Ich glaube, die Augsburger Fans sind pragmatisch. Ich habe als Jugendlicher als Ordner im alten Rosenaustadion gearbeitet, noch in der damaligen Regionalliga. Da kann ich mich an dramatische letzte Spieltage erinnern, an denen es der FCA nicht geschafft hat, in die zweite Liga zu kommen. Die Sehnsucht war immer groß, Profifußball zu spielen. Aber zweite Bundesliga ist auch Profifußball, so realistisch sind die Augsburger. Und ganz ehrlich: Es ist doch toll, ein Verein zu sein, zu dem man am Samstagnachmittag einfach hingehen kann und noch eine Karte bekommt. Darum soll's doch gehen, oder?