Faustkämpfe im Eishockey:Mitten in die Fresse

Themen der Woche SPORT Bilder des Tages SPORT Köln Lanxess Arena 19 11 17 Schlägerei zwischen; DEL Fight Steven Pinizzotto (EHC München) Moritz Müller (Kölner Haie)

Moritz Müller (li.) und Steve Pinizzotto liefern sich einen Boxkampf.

(Foto: imago/mika)

Beim Eishockey gehen die Spieler nicht zimperlich miteinander um. Wie kommt das und was sagt die Szene dazu? Gedanken zum Start der DEL-Playoffs.

Von Martin Anetzberger

Zwei schwere Jungs, beide mehr als 90 Kilo, stehen sich gegenüber - und geben es sich richtig. Sie schlagen mit ihren Fäusten aufeinander ein, auf den Kopf, ins Gesicht. Ihre Körper ineinander verkeilt, wanken sie hin und her. Mehr als 14 000 Zuschauer sehen das Spektakel in der Halle, vor dem Fernseher sitzen weitere Zehntausende und hören, was Sport1-Kommentator Basti Schwele sagt: "Zunächst Müller im Vorteil, dann aber hat ihn Pinizzotto gut. Dann noch mal kurzes Durchschnaufen, und dann gibt's zwei, drei gute Rechte von Pinizzotto, der hier die längere Reichweite hat als Moritz Müller." Sätze, die sich lesen, als würde Schwele die Runde eines Boxkampfes analysieren.

Doch Moritz Müller und Steve Pinizzotto, die da am 19. November 2017 aufeinander losgehen, sind keine Boxer. Sie sind Eishockeyspieler, bei den Kölner Haien beziehungsweise beim EHC München. Ihre Handschuhe haben sie, wie sich das für eine Schlägerei im Eishockey gehört, auf den Boden geworfen. Knapp eine halbe Minute später ist es vorbei. Müller blutet über dem Auge, die Zuschauer jubeln und aus den Lautsprechern der Kölner Arena dröhnt ein Lied, das Schwele, so erklärt er den Zuschauern, an die Rocky-Filme mit Silvester Stallone denken lässt. Doch Hauptdarsteller ist nicht der Hollywood-Schauspieler, es sind Müller und Pinizzotto. Boxing on Ice.

Und überhaupt: Haben die sie noch alle?

Für Eishockey-Laien stellen sich mehrere Fragen: Wie kommt es, dass eine heftige Schlägerei einen Kommentator derart begeistert? Wieso läuft im Stadion passende Musik? Warum dürfen die Kämpfer noch im gleichen Spiel wieder aufs Eis? Und überhaupt: Haben die sie noch alle?

In der Deutschen Eishockey Liga (DEL) starten an diesem Mittwoch die Playoffs (live auf Sport1 um 19.25 Uhr) und spätestens am 26. April steht der Deutsche Meister fest. Die Hallen werden in den kommenden Wochen noch besser gefüllt sein als während der Hauptrunde; Eishockey ist mit etwa 6000 Zuschauern pro Spiel im Schnitt Stadionsportart Nummer zwei in Deutschland, deutlich vor Handball und Basketball. Und die Silber-Medaille der deutschen Nationalmannschaft bei Olympia könnte noch ein paar neue Eishockeyfans in die Hallen und vor den Fernseher treiben.

Zwar kommen die Fans nicht wegen der Prügeleien. Doch sie machen für viele neben der hohen Geschwindigkeit, den spektakulären Bewegungen und den ohnehin schon harten Aktionen wie Bodychecks den Reiz des Sports aus. Schon das Regelwerk sagt viel aus: Artikel 141 legt ausführlich dar, welche Strafen die Schiedsrichter in so einem Fall aussprechen können. Darüber steht in der deutschen Version: "Faustkampf".

Seit 1922 stehen Faustkämpfe im Regelwerk

Dieser Sprachgebrauch bedeutet natürlich etwas. Volker Schürmann von der Deutschen Sporthochschule (DSHS) in Köln sagt: "Damit ist anerkannt, dass das zum Spiel dazugehört." Allerdings kann Schürmann nicht nachvollziehen, was Kämpfe im Eishockey zu suchen haben. "Und zwar nicht aus moralischen Gründen, sondern ganz einfach, weil das mit der Sportart nichts zu tun hat", sagt er: "Ich sehe da überhaupt keine Verbindung zur Spielidee." Dass die Strafen für tätliche Auseinandersetzungen im Eishockey im Vergleich zu anderen Sportarten deutlich milder ausfallen, zeigt für ihn allerdings, "dass man Sportarten nicht von der geschichtlichen Herkunft, von den Traditionslinien trennen kann".

Kommentator Basti Schwele, den viele Fans für seine emotionale Art schätzen und der früher selbst Spieler war, macht kein Geheimnis daraus, dass ihn die Kämpfe faszinieren. Das Duell zwischen Müller und Pinizzotto nennt er "einen der fairsten Faustkämpfe, den ich in der DEL seit Langem gesehen habe. Die haben das beide unter sich ausgemacht und sich einen guten Fight geliefert - so finde ich das in Ordnung." Tatsächlich hätten die Spieler den Kampf noch weiter treiben können. Aber Müller wendete sich schließlich ab, Pinizzotto hielt ebenfalls inne. Die Schiedsrichter nutzten den Moment und trennten die Spieler.

Kämpfe im Eishockey haben eine lange Tradition. In der NHL, der gemeinsamen Profiliga Kanadas und der USA, sahen sich die Veranstalter bereits 1922 gezwungen, sie ins Regelbuch aufzunehmen und so einzudämmen. Teil des Spiels waren sie ohnehin längst. Und auch fast 100 Jahre später gehören sie dazu. Im amerikanischen Fernsehen werden Statistiken für die Zuschauer eingeblendet: Größe, Gewicht und Kampfstatistik der Protagonisten. Video-Clips der Kämpfe werden, auch von den übertragenden Sendern, ins Internet gestellt, weil sie für die Fans zu den Höhepunkten zählen. In München kam es im vergangenen Dezember beim Spiel EHC gegen Eisbären Berlin zu einer kurzen Keilerei, zur Untermalung legte der DJ ein Lied von der Band Die Ärzte mit der passenden Textzeile auf: "Immer mitten in die Fresse rein".

"Die Aggression sucht sich immer ihren Weg"

Mit dem sogenannten Enforcer bildete sich in Nordamerika ein Spielertyp heraus, der nicht für feine Vorlagen und Tore zuständig ist. Sein Job ist es, durch harte Spielweise die eigene Mannschaft aufzurütteln und die Kontrahenten zu verunsichern. Ein Enforcer soll zudem die eigenen Starspieler schützen, damit diese nicht durch unfaire Aktionen des Gegners verletzt werden können.

Sportjournalist Heiko Oldörp, der lange in den USA gelebt und die NHL von Boston aus verfolgt hat, versteht den Enforcer auch als Regelhüter, der unfaire Aktionen des Gegners bestraft, die Schiedsrichter nicht immer sehen. Manchmal reicht schon seine bloße Anwesenheit, damit der Gegner gar nicht erst auf die Idee kommt, einen wertvollen Stürmer zu attackieren. Die Spieler wüssten: "Wenn ich den jetzt foule, dann tut es gleich richtig weh", sagt Oldörp.

Ein Fall ist ihm besonders in Erinnerung geblieben. März 2010, Pittsburgh Penguins gegen Boston Bruins. Matt Cooke von den Penguins ließ sich zu einem üblen Foul hinreißen, ein Check gegen den Kopf des Bruins-Stürmers Marc Savard. Der sah die Attacke nicht kommen und erlitt eine schwere Gehirnerschütterung, die mitursächlich für sein vorzeitiges Karriereende war. Cooke wurde für die Attacke weder während des Spiels noch danach von den Offiziellen bestraft. Die Quittung bekam er trotzdem, zwei Wochen später im Rückspiel in Boston. Kaum hatte er nach knapp zwei Spielminuten zum ersten Mal das Eis betreten, forderte Bostons Enforcer Shawn Thornton ihn zum Kampf auf.

Beide warfen ihren Schläger beiseite und ließen die Handschuhe fallen. Als Cooke zu Boden fiel, gingen die Schiedsrichter sofort dazwischen. Das Heimpublikum, das Oldörp zufolge auch deswegen zum Spiel gekommen war, weil es Revanche für Cookes dreckiges Foul sehen wollte, dankte es Thornton mit Standing Ovations. "In einem NHL-Stadion gibt es drei Situationen, in denen es laut wird: ein Tor für das Heimteam, wenn auf dem Videowürfel 'Make some noise' steht, oder wenn geprügelt wird", sagt Oldörp.

Eine kritische Diskussion im Eishockey gab es 2011, als kurz hintereinander gleich drei NHL-Enforcer starben, zwei nahmen sich Medienberichten zufolge das Leben, der dritte starb an einem Mix aus Alkohol und Medikamenten. Studien deuten auf einen Zusammenhang zwischen Gehirnerschütterungen und der Wahrscheinlichkeit hin, an einer Depression zu erkranken. Allerdings gilt das auch für andere Sportarten, wie zum Beispiel American Football. Der Enforcer verliere allerdings immer mehr an Bedeutung, sagt Jörg von Ameln, Spielbetriebsleiter der DEL, weil das Spiel noch schneller geworden sei. In Deutschland hatte sich diese Rolle ohnehin nie richtig etablieren können, was vor allem daran liegt, dass Kämpfe hier härter sanktioniert werden.

In der NHL ist die Standardstrafe für einen Fight wie Müller gegen Pinizzotto ein Fünf-Minuten-Ausschluss. In der DEL gibt es derzeit eine 2+2+10-Strafe, die Spieler müssen 14 Minuten aussetzen. Eine angemessene Strafe, findet van Ameln: "Kämpfe sind in der DEL kein Massenphänomen."

Der Deutsch-Kanadier Pinizzotto ist, obgleich kein Enforcer, so etwas wie der Bad Guy der DEL. Ein Spieler, den man nicht gerne zum Gegner hat, im Fußball heißt so einer zum Beispiel Mark van Bommel. Pinizzotto kann hart checken, provoziert durch Trash Talk, kleine Stockschläge und geht auch keinem Kampf aus dem Weg. Sein aggressives Spiel erklärte er in einem SZ-Interview einmal damit, dass er sich als Kind gegen seine zwei älteren Brüder behaupten musste. Auch sie wurden später Eishockey-Profis.

Was ist fairer: Grätsche oder Faustschlag?

In München ist Pinizzotto der Publikumsliebling. Im Eissportzentrum im Norden der Stadt nennen sie ihn den "Sheriff". Ein harter Kerl, der für Ordnung sorgt. Manchmal mit einem Schlagschuss ins Tor, manchmal mit einer Faust in des Gegners Gesicht. Dass sich Moritz Müller von den Haien ausgerechnet Pinizzotto aussuchte, war ein Signal an sein Team: Wenn ich es mit dem stärksten Münchner aufnehmen kann, dann können wir das Spiel auch noch gewinnen. Zu dem Zeitpunkt stand es 4:2 für München, obwohl Köln bereits 2:0 geführt hatte. Müllers Mitspieler klopften mit ihren Stöcken auf das Eis oder gegen die Bande, ein Zeichen der Anerkennung.

Nicht nur Volker Schürmann von der DSHS sieht die Kämpfe mit Skepsis. Auch DEL-Spielbetriebsleiter von Ameln könnte auf sie verzichten und sagt: "Die Beliebtheit der Video-Clips spiegelt nicht das wider, was bei uns auf dem Eis eigentlich geboten ist." Obwohl ihm bewusst ist, dass die Fights auf absehbare Zeit nicht verschwinden werden. Und wenn ja, zu welchem Preis? Als der Enforcer aus der Mode kam, habe es plötzlich viel mehr Attacken gegen den Kopf gegeben. "Wahrscheinlich gab es mit den Enforcern sogar weniger Gehirnerschütterungen als ohne. Die Aggression sucht sich immer ihren Weg", sagt er.

Darauf müsse man dann im Regelwerk reagieren. Harte Checks an der Bande oder Treffer mit dem Puck seien für den Kopf auch gefährlicher als Faustkämpfe, sagt Heiko Oldörp; diesen Eindruck bestätigt Thomas Henke von der Ruhr-Universtität Bochum, der Sportverletzungen erforscht. "Faustkämpfe führen in der Regel nicht zu gravierenden Verletzungen", sagt er. Eishockey sei eben ein "Kollisionssport", führt Oldörp aus und es sei "nur allzu menschlich", wenn ein Spieler sage: "Jetzt hast du mich dreimal angerempelt, jetzt ziehe ich dir mal eine rein."

Er gibt zu bedenken, dass es viel naheliegender sei, dass die Spieler einfach mit den gefährlichen Schlägern aufeinander einprügelten. In der Männersportart Eishockey gilt das jedoch als unehrenhaft. Und in einem Punkt sind sich Oldörp, Schwele und Ameln einig: Gefightet wird nur, wenn beide wollen. "Es ist tausendmal ehrlicher, du schaust dir ins Auge und gibst dir drei Fäuste", als ein Fußballer, der dem Gegenspieler "von hinten in den Knöchel oder ins Knie" grätsche, sagt Schwele. Hinterher reichen sich die Raufbolde wieder die Hand, nachtragend sind die meisten nicht.

Als die Haie zwei Monate später zu Gast im Münchner Eissportzentrum waren, hätten einige Heimfans gerne eine Neuauflage des Kampfes zwischen Pinizzotto und Müller gesehen. Sie sangen: "Hau dem Mü-ü-ller aufs Maul, Pini-zzo-o-tto - hau dem Mü-ü-ller aufs Maul, Pini-zzo-o-tto!" Doch Emotionen gibt es nicht auf Bestellung, der Sheriff ließ seine Fäuste diesmal stecken.

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