Fataler Sturz:Ein Ausnahmefall

Lukas Mueller

Ein Bild aus vergangenen Tagen: Lukas Müller freut sich über einen gelungenen Sprung im Dezember 2009.

(Foto: Matthias Schrader/AP)

Die schwere Verletzung des gestürzten Österreichers Lukas Müller wirkt nach. Die Kollegen suchen eine Balance zwischen Anteilnahme und Routine.

Von Volker Kreisl, Bad Mitterndorf

Es war der immer gleiche Ablauf. Anlauf, Sprungtisch, Vorbau, Landezone. 40 Springer flogen der Reihe nach mit eineinhalb Minuten Abstand. Hin und wieder verzögerte der Wind ein wenig, es war aber nicht der Rede wert. Die Springer landeten, schüttelten den Kopf oder jubelten, danach: Ergebnislisten und Medaillen. Der Einzelwettkampf bei dieser Skiflug-WM am Kulm erschien wie jede andere Sprungveranstaltung.

Tatsächlich ist diese Weltmeisterschaft anders. Zwei Tage vor ihrem Start hatte sich der 23-jährige Österreicher Lukas Müller als Vorspringer bei einem Sturz eine schwere Verletzung der unteren Halswirbelsäule zugezogen. Am Freitag diagnostizierten die Ärzte eine inkomplette Querschnittslähmung. "Er kann die Beine nicht bewegen", sagte Franz-Josef Seibert, Unfallchirurgie-Vorstand an der Uniklinik Graz. Das war einerseits niederschmetternd, weil sich die Befürchtungen bestätigt hatten. Andererseits ließ Seibert etwas Hoffnung übrig, weil Müller ein Restempfinden in den Beinen habe, was theoretisch reaktiviert werden könne. Ob dies gelinge, wisse niemand, Seibert sagte: "Es ist unseriös, zum jetzigen Zeitpunkt eine fixe Aussage zu machen."

Wer zweifelt, braucht erst gar nicht anzutreten

Skispringer sind hart im Nehmen, sie müssen es sein, sonst würde ihr Sport nicht funktionieren. Wer hier zu vorsichtig ist, heißt es, der brauche erst gar nicht anzutreten, vor allem nicht bei einer Skiflugveranstaltung, bei der sich ein zögerlicher Absprung nicht nur in fünf, sondern in 50 Weiten-Metern auswirkt. Die Athleten dieser WM verhielten sich also professionell, die beiden ersten Tage der WM mit den wegen des Wetters auf drei reduzierten Durchgängen der Einzelentscheidung boten spektakuläre Sprünge und überraschende Führungswechsel. Dennoch war es kein Wettkampfalltag. Müllers Situation war zwar im Hintergrund, aber doch stets präsent.

Österreichs Skispringer Michael Hayböck erklärte: "Es bleibt einem nichts anderes übrig, als es auszublenden." Der Schweizer Simon Ammann, der selber vor einem Jahr schwer gestürzt war, sagte: "Das geht nicht spurlos an einem vorüber." Die meisten versuchten, sich keine Gedanken zu machen, was im Normalfall nicht wirklich gelingen kann. Dies ist nach dem Unglück von Nicholas Fairall (USA) in Bischofshofen 2015 die zweite Querschnittslähmung binnen zweier Skisprung-Winter. Und zudem war es der fünfte schwere Sturz nach Thomas Morgenstern am Kulm 2014, Andreas Wellinger (Ruhpolding) in Kuusamo - und Ammann in Bischofshofen 2015. Derjenige, der also trotzdem an diese Gefahren denkt, sucht nach Auswegen.

Alle wünschten Müller nun das Beste, alle verwiesen aber auch darauf, dass dies ein sehr seltener Ausnahmefall sei. Ein Materialproblem, eine Verkettung unglücklicher Umstände, vielleicht auch menschliches Versagen. "Es ist unwahrscheinlich, dass so etwas noch einmal passiert, aber es ist trotzdem extrem bitter", sagte der deutsche Vorzeigespringer Severin Freund. Sein Trainer Werner Schuster sagte, die Gesamtsituation sei ja nicht unbeherrschbar gewesen: "Die Ursachen lassen sich zuordnen." Das Risiko sei beim Material eben schon kalkulierbar. "Jeder muss schauen, dass er seine Voraussetzungen beinander hat."

Der Sprungstiefel öffnete sich, weil der Sicherheitsriemen gerissen war

Müllers linker Sprungstiefel hatte sich nach ungefähr 120 Metern in der Luft plötzlich geöffnet. Der Sicherheitsriemen war gerissen, was normalerweise nicht vorkommt. Unter dem Riemen befindet sich aber noch die Schuhschnürung, und auch diese hatte Müllers Skisystem nicht gehalten. Unklar ist, ob Müller selber nicht fest genug geschnürt hatte, oder ob die Kräfte in der Luft zu stark waren. Peter Schröcksnadel, der Präsident des Österreichischen Skiverbands (ÖSV), kündigte eine Untersuchung des Stiefels an: "Ob das Material bei uns oder an der Universität Innsbruck untersucht wird, weiß ich noch nicht, aber wir machen das mit Sicherheit."

Trotz der routinierten Art, wie die Konkurrenz zur Tagesordnung überging, war die Anteilnahme von Müllers Sport-Kollegen groß. Sie ist ohnehin nicht messbar, das Meiste davon findet nicht in der Öffentlichkeit statt. Fraglich bleibt aber, ob sich die Ursachen von Müllers Unglück wirklich isolieren und aus dem Alltag der Springer ausschließen lassen.

Tatsächlich sind sie ja fester Bestandteil des Systems Skispringen. Das sogenannte menschliche Versagen wird immer ein Begleiter des Risikosports bleiben, weil sich Wetteifer und Selbstkontrolle widersprechen. Und ein unerkanntes Materialproblem ist zwar selten, aber nicht so selten, wie man glaubt. Stefan Kraft, der Tournee-Gewinner 2015, hatte beim Weltcup in Trondheim im vergangenen Jahr extremes Glück. Da hatte sich in der Luft die Halterung seines Bindungsstabes gelöst, sein Ski hing nur noch am Sicherungsriemen.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: