Fanmeile in Berlin:Die Lust an der Wurst ist vergangen

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Soll keiner sagen, dass beim Public Viewing in Berlin niemand mehr die WM verfolgt - es spielt halt nur kein Deutscher mehr mit. (Foto: dpa)

Wie sieht es eigentlich auf der Fanmeile in Berlin aus? Das DFB-Team ist längt raus, trotzdem kommen Tausende Leute zum Fußballschauen. Nur der Appetit ist nicht mehr der gleiche.

Reportage von Jan Schwenkenbecher, Berlin

Nicht mal Jay Khan schafft, dass sie aufstehen. Kurz vor Anpfiff des zweiten Halbfinals zwischen England und Kroatien springt der britische Popstar über die Bühne vor dem Brandenburger Tor. Er gibt alles: Singt die englische Fußballhymne "Football's Coming Home"; dann seine englische Version von Dschingis Khans "Moskau"; "Wonderwall"; "Angels" von Robbie Williams. Und weil nichts hilft, noch einmal "Football's Coming Home". Ein paar der größtenteils englischen Fans schwenken Flaggen, die meisten sitzen, Pommes essend, auf dem Boden. Tags zuvor, beim ersten Halbfinale zwischen Frankreich und Belgien, war die Stimmung ähnlich entspannt auf der Fanmeile in Berlin.

Vor vier Jahren hatten hier noch Hunderttausende der DFB-Elf nach dem Gewinn des Weltmeistertitels in Brasilien zugejubelt. Diesmal schlendern Leute mit Tagesrucksack umher, knipsen hier und da ein Selfie. Drei Mitarbeiter haben mitten auf der Straße ihre Klappstühle aufgebaut. Die Leere in Zahlen: In drei von 26 Riesenradgondeln sitzen Menschen, 22 von 52 Dixie-Klos sind zur Nutzung freigegeben. Die Bedienung eines Bierpilzes sagt: "Bei den Deutschland-Spielen war hier alles voll. Die ganze Straße. Bis zum Ende."

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Aber Deutschland ist raus seit zwei Wochen. Und mit Abpfiff nach dem 0:2 im dritten Gruppenspiel gegen Südkorea teilte sich die Gemeinde der Fußball-Fans: Die einen gaben an, sich nun nicht mehr für die WM zu interessieren. Die anderen gaben an, nun endlich entspannt Fußball schauen zu können. Die einen kommen nun nicht mehr auf die Fanmeile. Von den anderen sind ein paar wenige vertreten. Sie tragen Vereinstrikots oder nippen ihr Feierabendbier im gebügelten Dreiteiler und reden über Englands Dreierkette.

Es ist so: Wer Fußball des Fußballs wegen schaut, der geht nicht zur Fanmeile. Hier geht man hin, weil es auf der Haut kribbelt, wenn bei Toni Kroos' Freistoß-Tor in der 95. Minute alle losbrüllen, Bierbecher fliegen und jeder den Nebenfan umarmt. Abgesehen von diesem einen Moment im Spiel gegen Schweden gilt für die WM, was die Frau vom Würstchenstand sagt: "Deutschland hat so schlecht gespielt, dass keiner mehr Lust auf Wurst hatte."

Das WM-Aus des Weltmeisters von 2014 verdarb den Fans den Appetit und den Händlern den Umsatz. Einen beinahe fünfstelligen Betrag habe sie für den Platz gezahlt, sagt die Wurstverkäuferin, "wenn ich ganz viel Glück habe, bekomme ich das wieder rein". Der Mann vom Fanartikel-Stand gegenüber ist zufriedener, weil die Belgier alle schwarz-rot-goldenen Halsketten kauften. "Schon okay", so sein Fazit. Nicht unbedingt das, was man erwartet, wenn man einen Stand beim größten Public Viewing des Landes anmietet.

Aber es war ja auch nicht zu erwarten, dass es nur drei Deutschland-Spiele geben würde, zu denen mehr als 100 000 Besucher kamen. Seit die Fanmeile 2006 zum ersten Mal aufgebaut wurde, erreichten die Deutschen bei jeder Welt- und Europameisterschaft mindestens das Halbfinale. Macht pro Turnier immer fünf Spiele oder mehr. "Es ist für alle schade und traurig, dass Deutschland schon raus ist", sagt Anja Marx, Sprecherin des Veranstalters Wohlthat Entertainment. Doch die Halbfinals seien trotzdem sehr gut besucht gewesen. Damit sind allerdings keine 100 000 Fans gemeint, sondern jeweils etwa 10 000 Besucher, wie ein Polizist präzisiert.

Die ersten Berliner forderten deshalb schon nach der Vorrunde, man könne die Fanmeile nun doch auch ganz abbauen, zumindest aber Teile, etwa wegen der Verkehrsbeeinträchtigung. Senat, Polizei, Feuerwehr und Veranstalter haben das diskutiert, und tatsächlich hat der Veranstalter die hintersten Bildschirme, Leinwand sechs und sieben, abgebaut. Leinwand fünf steht noch, ist aber aus. Die Händler dort haben ihre Zelte abgebrochen. Von einst 800 Metern Fanmeile stehen noch 500. Am Verkehr ändert das nichts.

Was aber stimmt: Ganz vorne, am Brandenburger Tor, wurde es bei beiden Halbfinals dann doch noch voll. Und auch die Stimmung passte. Beim Sieg der Franzosen feierten die Anhänger der Equipe den Sieg ihrer Mannschaft, der DJ stellte die Musik laut. Noch ausgelassener ging es nach Kroatiens Sieg zu, auch wenn die meisten Fans "Three Lions" auf den Shirts trugen. Nicht etwa, weil Jay Khan noch mal gesungen hat, dass der Fußball nun endlich heimkommt.

Pünktlich mit Abpfiff setzte Platzregen ein, binnen Minuten waren Trikots und Flaggen so nass, dass es egal war, ob man sich noch unterstellte. Lautes Geschrei, heftiges Gerenne, und jeder lachte mit dem Nebenfan.

© SZ vom 13.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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