Auf der Südtribüne im Stadion von Borussia Dortmund trampeln, klatschen, johlen, singen, pfeifen und schreien 25.000 Menschen. Oft wird die Tribüne mit einer schwarz-gelben Wand verglichen. Die Botschaft an den Gegner ist klar, doch wie sehr beeindruckt das eine Profi-Fußballmannschaft wirklich? Professor Bernd Strauß von der Universität Münster hat ein Buch mit dem Titel "Sportzuschauer" geschrieben.
SZ.de: Herr Strauß, der Zuschauer wird im Fußball oft als zwölfter Mann bezeichnet. Wer ist wertvoller für eine Mannschaft: Ein Spieler auf dem Platz oder der Fan auf der Tribüne?
Bernd Strauß: Rein sportlich betrachtet natürlich Spitzenspieler wie Lionel Messi. Aber selbst ein Zweitliga-Profi wäre wohl wertvoller als die Fans.
Sie haben gerade ein neues Buch herausgegeben und sich darin mit dem Phänomen des Sportzuschauers beschäftigt. Gibt es den viel gerühmten Heimvorteil etwa gar nicht?
Doch, es gibt ihn immer noch. Aber abnehmend in seiner Wirkung. Tatsächlich entsteht häufig eine Art Null-Effekt, denn der Einfluss der Zuschauer ist nicht nur positiv, da ein Heimpublikum die eigene Mannschaft auch verunsichern kann. Der soziale Druck, den ein Publikum aufbaut, wirkt duchaus auch leistungshemmend. Dazu kommt, wenn wir hier über Profis reden, dass diese die Zuschauermassen gewöhnt sind - egal ob zuhause oder auswärts. Diese Gewöhnung wird durch die hohe Zahl der Spiele nur noch verstärkt. Wenn ich alle drei bis vier Tage vor so einer Kulisse spiele, dann wird das auch irgendwann normal.
Aber es gibt doch Profis, die eindeutig auf eine große Kulisse reagieren. In Dortmund zum Beispiel, wenn der FC Schalke zum Derby kommt.
Natürlich, aber das ist ein Einzelfall. Wir als Wissenschaftler haben viel mehr Spiele gegenüber gestellt und ausgewertet. In den allermeisten Spielen ist der Einfluss der Zuschauer verschwindend gering. Das Beispiel Dortmund kann mit dem gerade gespielten Derby (Dortmund verlor 1:2 gegen Schalke, d. Red.) außerdem entkräftet werden. Oder wirkte Schalke beeindruckt und eingeschüchtert?
Vielleicht hatten die Fans einen schlechten Tag?
Im Derby? Gegen Schalke? Ich bitte Sie.
Das werden die Fans aber nicht gerne hören.
Fan-Choreografien im Stadion:Die schönen Seiten der Kurven
Schlägereien, Randale und Feuerwerkskörper auf dem Spielfeld - das Bild vom Fußballfan ist durch Ausschreitungen negativ geprägt. Doch die Fans erschaffen in den Stadien vielfach auch eindrucksvolle Bilder - bisweilen allerdings untermalt von martialischen Botschaften: "Stadionwelt" präsentiert die aufwendigsten Fan-Choreografien der Spielzeit 2010/11 in dem Buch "Faszination Fankurve 5".
Es ist nicht so, dass es gar keinen Einfluss gäbe. Er ist nur sehr viel geringer, als viele Zuschauer glauben, oder auch glauben wollen. Denn das wiederrum ist ein wichtiges psychologisches Element von Zuschauern und ihrer Motivation, überhaupt ins Stadion zu gehen. Sie schreiben sich das selbst zu und sagen: Ja, ich habe Einfluss. Sie brauchen dieses Gefühl, etwas beeinflussen zu können.
Dennoch ist Zuschauer nicht gleich Zuschauer.
Das ist richtig. Die Wissenschaft unterscheidet verschiedene Kategorien: Da gibt es die Supporter, den Follower, den Fan und den Flaneur. Die Supporter verkörpern die heißen Traditionalisten: Sie pflegen eine enge und tief emotionale Verbindung zu ihrem Verein. Die Identifikation mit dem Club gehört quasi zum Selbstkonzept, die eigenständige Szenen innerhalb der Stadionbesucher. Die Follower, die kalten Traditionalisten, sind langjährige Fußballinteressierte, die aber selten in Fanclubs organisiert sind, sondern ihre Bindung mehr über den Medienkonsum ausleben. Ein gutes Beispiel ist der FC Barcelona, der mit 57 Millionen Anhängern weltweit der populärste Verein ist, wobei viele dieser Anhänger noch nie ein Spiel im Camp Nou gesehen haben.
Und der eigentliche Fan kommt erst an dritter Stelle?
Wissenschaftlich betrachtet ja. Sie gelten als heiße Konsumenten, denen es in erster Linie wichtig ist, Nähe zum Lieblingsverein und den Lieblingsspielern herzustellen. Das gilt nicht nur für den Sport, sondern auch für populäre Musik, Spielfilme oder Fernsehserien. Fans bauen häufig eine parasoziale Beziehung zu den von ihnen verehrten Akteuren auf. Neben gelegentlichen Besuchen im Stadion dem Konsum über Medien zeigt sich die Anteilnahme vor allem durch den Konsum von Merchandising-Artikel wie Schals, Trikots und Mützen. An vierter Stelle steht der Flaneur, der als Schaulustiger auf der Suche nach sensationellen Ereignissen, Bildern und Geschichten ist. Sie haben keine echte Bindung zu einem Verein.
Die Bundesliga erfreut sich über immer mehr Zuschauerzuspruch, während andere Ligen Probleme haben. Woran liegt das?
Wichtig ist die Ausgeglichenheit einer Liga. Für Zuschauer ist es schlimm, wenn es nur zwei dominierende Favoriten gibt, die jedes Jahr die Meisterschaft unter sich ausspielen. Kommt dann noch eine Handvoll sicherer Absteiger dazu, so dass die Liga deutlich auseinander klafft, dann gibt es keine Spannung mehr. Die deutsche Liga schafft es immer wieder, für Überraschungen zu sorgen. Man sieht es etwa an Eintracht Frankfurt in dieser Saison. Klar gibt es in Deutschland auch Vereine, die konstant in der oberen Tabellenhälfte spielen. Das liegt aber auch sehr stark daran, welche Summen ein Verein in seine Spieler investiert und investieren kann.
Liegt darin eine Gefahr für die Liga?
Nein, solange seriös im Rahmen der Möglichkeiten gewirtschaftet wird. Dann steigert dies natürlich die Attraktivität der Liga. Dadurch, dass zur Zeit viel Geld im Umlauf ist, spielen auch viele Weltstars in der Liga. Das macht im Hinblick auf die Identifikation viel aus. Und selbst aus der Tatsache, dass sich nicht alle Vereine diese Ausnahmekönner leisten können, generiert sich noch Spannung: Die finanziell schwächeren Vereine setzen auf andere Mittel, gute Jugendarbeit etwa. Das wiederrum schafft Potenzial zur Heldenbildung und eine weitere Identifikationsfläche.