Ex-Schiedsrichter Markus Merk im Interview:"Ein Spielabbruch ist das letzte Mittel"

Bengalische Feuer und Hunderte Fans auf dem Platz - die Vorkommnisse beim Relegationsspiel in Düsseldorf treffen den deutschen Fußball hart. Der ehemalige Welt-Schiedsrichter Markus Merk spricht über den richtigen Umgang mit solchen Situationen, ein von ihm abgebrochenes Derby in Mailand - und die Fehler der Düsseldorfer Ordnungskräfte.

Jonas Beckenkamp

Wer an deutsche Fußballschiedsrichter in den vergangenen 20 Jahren denkt, kommt an Dr. Markus Merk nicht vorbei. Der gebürtige Pfälzer pfiff zwischen 1988 und 2008 insgesamt 339 Bundesliga-Partien, dazu 50 Länderspiele und 78 Europapokal-Begegnungen. Einer Sache war sich der gelernte Zahnarzt immer sicher: Seines Urteilsvermögens. Sein gutes Auge, seine Übersicht und seine Entscheidungsfreude machten aus Merk einen der beliebtesten deutschen Referees. Wer es als Schiedsrichter schafft, bei seinem letzten Auftritt von Uli Hoeneß und Tausenden Zuschauern im Stadion gefeiert zu werden, muss oft richtig gelegen haben. Mittlerweile arbeitet Merk als TV-Experte für Sky.

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Markus Merk leitete viele große Fußballspiele - hier demonstriert er im Finale der Euro 2004 Gelassenheit.

(Foto: AFP)

SZ: Herr Merk, was haben Sie gedacht, als Sie die schlimmen Szenen am Dienstagabend beim Relegationsspiel in Düsseldorf gesehen haben?

Markus Merk: Das sind schockierende Bilder. Wenn man selbst weiß, wie das für einen Schiedsrichter auf dem Spielfeld ist, nimmt einen das sehr mit. Auch für die Spieler, die Sicherheitskräfte und die Zuschauer sind das schlimme Erlebnisse. Das passt überhaupt nicht zu unserem Verständnis des Fußballs in Deutschland.

SZ: Haben Sie als früherer Schiedsrichter mit Ihrem Ex-Kollegen Wolfgang Stark mitgefühlt?

Merk: Als Schiedsrichter kann ich mit solchen Situationen besser umgehen, als viele vielleicht vermuten würden - und trotzdem erwartet es keiner so. Ich habe Ähnliches erlebt, als ich vor einigen Jahren die Champions-League-Begegnung zwischen Milan und Inter Mailand geleitet habe und das Spiel abbrechen musste. Damals herrschten vergleichbare Zustände. Darauf bist du als Schiedsrichter nicht vorbereitet, aber du musst damit umgehen können. Ich muss sagen, nach bestehenden Richtlinien, hat mein Kollege Wolfgang Stark gestern prima reagiert.

SZ: Wie gingen Sie damals in Mailand mit der Verantwortung für solche Geschehnisse um?

Merk: Verantwortung ist der richtige Begriff. Die trägt der Schiedsrichter für alle Beteiligten: Für die Profis, die Ordner und letztlich für alle Menschen im Stadion, von denen die meisten gar nichts für die Probleme können. Da ist der Spielleiter hin- und hergerissen, denn es existiert kein Patentrezept. Es gibt Anweisungen für solche Fälle, aber es ist jedes Mal eine neue Situation. Als Referee kann ich mich nur an Richtlinien halten. Da brauche ich Fingerspitzengefühl, um eine Deeskalation zu erreichen.

SZ: Wie steht es denn genau in den Regeln? Wann ist ein Spiel abzubrechen?

Merk: Zu solchen Vorkommnissen steht nichts im Regelbuch. Als ich das Mailänder Derby damals wegen fliegender Feuerwerkskörper unterbrochen habe, holte ich mir vom Sicherheitschef des San Siro die Zusage, dass seine Ordnungskräfte die Situation in Griff kriegen. Daraufhin sagte ich: Okay, wenn Sie das gewährleisten, spielen wir weiter. Aber wenn noch ein einziger Böller fliegt, muss ich die Sache beenden. Als ich die Partie fortsetzte, dauerte es keine 30 Sekunden und es krachte wieder. Da war klar: Hier geht es nicht weiter. Ein Spielabbruch ist das letzte Mittel - für mich war es damals die unbefriedigendste aller Lösungen, aber es musste sein.

SZ: Verspürt ein Schiedsrichter selbst Angst, wenn auf dem Platz Feuerwerkskörper explodieren?

Merk: Das kann ich mir schwer vorstellen. Als Schiedsrichter ist mir dieser Begriff fremd. Furcht darf ein Referee nicht empfinden - schon gar nicht wegen seiner Entschlüsse. Sie müssen sich der Situation stellen und dem Druck gerecht werden. Das gilt für alle Bereiche des Schiedsrichterwesens. In solchen Momenten denken sie darüber nicht nach, sondern sie versuchen, die Problematik im Stadion zu lösen. Es geht einerseits um die Sicherheit aller Beteiligten, aber auch darum, das Spiel nach nach Möglichkeit zu Ende zu bringen.

"Es war gut, das Spiel zu unterbrechen"

SZ: Nach welchen Kriterien entscheiden Schiedsrichter in solchen Momenten?

Spiel bei Champios League zwischen Inter Mailand und AC Mailand abgebrochen, 200

Milans Keeper Dida wird im Champions-League-Viertelfinale 2005 von einem Feuerwerkskörper getroffen - daraufhin brach Markus Merk die Partie ab.

(Foto: dpa/dpaweb)

Merk: Beim Spiel am Dienstag war zu sehen, dass am Spielfeldrand heftige Diskussionen stattfanden, an denen unter anderem auch DFB-Vizepräsident Rainer Koch beteiligt war. Die endgültige Entscheidung obliegt dem Schiedsrichter, aber es gibt die Option, sich zu beraten. Damals in Mailand holte ich die Spieler in die Kabine und der Stadionsprecher probierte vergeblich, die Leute zu beruhigen. Dennoch: Die Vereine müssen mit Hilfe ihrer Ordnungskräfte die Chance haben, die Lage selbst zu klären. Und wenn es dann nicht klappt, ist das Spiel eben aus.

SZ: In Düsseldorf waren es zunächst bengalische Feuer, dann der Platzsturm, als Düsseldorfer Fans glaubten, der Schiedsrichter hätte bereits abgepfiffen. Was ist dagegen zu tun?

Merk: Es war gut, das Spiel zunächst zu unterbrechen, denn so konnte man zumindest versuchen, die Gemüter abzukühlen. Bei Platzstürmen sind die Menschen irgendwann nicht mehr zu halten. Da entwickelt sich ein Herdentrieb: Wenn einer losrennt, laufen alle. Was die bengalischen Feuer betrifft, sollten wir in Zukunft drüber nachdenken, die Sicherheitskontrollen zu verbessern - aber es darf auch nicht sein, dass die Fans auf das Feld gelangen.

SZ: War es also ein Fehler der Ordner, die Leute nicht zu bremsen?

Merk: Natürlich. Wehret den Anfängen! Wenn da unten 1000 Leute stehen, sind die Massen nicht mehr zurückzuhalten. In Düsseldorf rannten glücklicherweise jubelnde Fans aufs Feld, da waren Frauen und Kinder auf dem Rasen, die nichts Böses wollten. Aber diese massive Strömung auf den Platz haben die Ordnungskräfte unterschätzt. Sie hätten wissen müssen: Wenn Anhänger in den Innenraum gelangen, wird das Spiel sofort unterbrochen. Es ist schlichtweg zu gefährlich. Außerdem wird die Partie beeinflusst. Die Akteure verwirrt das in ihrem Spiel.

SZ: Wie verläuft die Absprache mit der Polizei und den Ordnern?

Merk: Oft passieren Dinge während des laufenden Spiels - da muss ich zunächst einmal abwägen und eine Entscheidung treffen. Ich kann weiterspielen lassen, die Partie unterbrechen oder sofort alle Spieler in die Kabine holen, um Zeit zu gewinnen. Vielen Zuschauern wird das Ausmaß der Eskalation erst dann klar, wenn alle den Platz verlassen. In der Folge versuche ich dann, Funktionäre und Sicherheitskräfte einzubinden, weil diese enorme Verantwortung einem Einzelnen gar nicht zumutbar ist. Vor internationalen Begegnungen findet morgens eine Sicherheitssitzung statt, in der die Referees mit Vereinsverantwortlichen und der Polizei das Krisenmanagement besprechen. Vieles dreht sich bei der Absprache auch um Prävention.

SZ: Zuletzt häuften sich negative Vorkommnisse wie jene in Düsseldorf. Wie ist es derzeit um die Sicherheit in deutschen Stadien bestellt?

Merk: Unser Sicherheitsstandard ist sehr gut. In der Türkei sind die Zustände beispielsweise viel schlimmer. Aber man muss sagen, dass in den vergangenen Wochen auch in Deutschland das Fanverhalten explodiert ist. Klar sind es oft nur Einzelne, die über die Stränge schlagen, aber diese Wenigen haben eine Sogwirkung und verursachen Nachahmer. Wir sollten mehr auf die Verantwortung aller Stadionbesucher pochen - da ist Zivilcourage gefragt. Wenn einer über den Zaun klettert, müssen die anderen ihn eben zurückhalten.

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