Kein Ort auf der Tennisanlage in Flushing Meadows führt einem den oft himmelweiten Unterschied zwischen Wunsch und Wirklichkeit so brutal vor Augen wie Court 6. Eva Lys bemerkte ihn, als sie nur noch zwei Punkte brauchte zu einem Erstrundensieg bei den US Open – aber auch nur zwei verlorene Ballwechsel vom Tiebreak im zweiten Satz entfernt war. Sie stand in der Ecke, griff zum Handtuch und sah hinauf zur Anzeigetafel des Platzes direkt nebenan. Dort stand, dass sich Laura Siegemund den ersten Satz geholt hatte; Siegemund sollte dann 7:6 (3), 2:6, 6:3 gegen Diana Shnaider aus Russland gewinnen und angesichts ihres verletzten Oberschenkels sagen: „Da bin ich schon sehr stolz drauf.“
Die Profis kriegen wirklich alles mit, was auf dem Nebenplatz passiert; kann sein, dass der Schiedsrichter drüben „Fußfehler“ ruft, während man selbst gerade den Ball zum Aufschlag hochwirft. Sie hören die Durchsagen vom Stadion Grandstand dahinter sowie das Klirren der Gläser auf der Bar der Terrasse daneben – und im Hintergrund ist dauernd das Arthur Ashe Stadium zu sehen, die größte Tennisarena der Welt und Sehnsuchtsort aller Profis. Da wollen sie hin. Und auch wenn es keine 100 Schritte sind: Es ist ein langer, steiniger Weg.

Deutsche bei den US Open:„Wir können nichts schönreden“
Nur drei Frauen und drei Männer: Bei den US Open sind so wenige deutsche Tennisprofis im Hauptfeld wie seit 1983 nicht mehr. Im Gegensatz zu anderen Nationen, Italien etwa, gelingt es hierzulande kaum, Talente zu mobilisieren.
Die Frage nach der Gegenwart ist bei Eva Lys eine spannende, weil sie das Vorbereitungsturnier in Cleveland wegen Schmerzen im Rücken hatte abbrechen müssen. Alles ist gut, hatte sie vor Turnier versichert, sie habe ihre rheumatische Autoimmunkrankheit gut im Griff. Nur ist es eben so: Fast alle Profis behaupten vor dem Beginn eines Grand Slams, topfit zu sein und ordentlich was reißen zu wollen; die Hälfte bemerkt dann bereits in der ersten Runde diesen Unterschied zwischen Selbsteinschätzung und Realität – und begibt sich schon wieder zum Flughafen.
Eva Lys gewann die nächsten beiden Ballwechsel. Nicht nur deshalb war das 6:0, 7:5 gegen die Britin Francesca Jones ein sportliches Statement: Sie ist eine komplett andere Spielerin als noch vor einem halben Jahr.
Aus ihrer Gewissheit um die physische Stabilität, erklärt Lys, entstehe das Selbstbewusstsein, so zu spielen, wie sie das wolle
Es beginnt beim Äußerlichen – und nein, dies ist keine Analyse ihres Outfits, es verbietet sich ohnehin, Sportlerinnen nach ihrem Aussehen zu beurteilen. Lys hatte jedoch selbst gesagt, dass man sie doch nur anzusehen brauche. Sie habe die unheilbare Krankheit nun so im Griff, dass sie ordentlich Muskeln habe aufbauen können: „Das sieht man ja auch“, sagte sie: „Es erlaubt mir, härter zu schlagen. Ich musste das nur einpendeln. Es hilft ja nichts, wenn man draufhauen kann, und der Ball fliegt dann immer hinten raus.“ Tatsächlich: Die Grundschläge kamen konstant knallhart übers Netz in die Nähe der Grundlinie. Es erweitert das taktische Repertoire immens, wenn man sich dessen gewiss sein kann.
Lys nimmt die Bälle mittlerweile nicht mehr nur dann bewusst früh, wenn sie den Ballwechsel dominiert, sondern auch in anderen Situationen. Stellvertretend dafür war die Sequenz im zweiten Satz, als ihr die Partie zu entgleiten drohte: Die donnernde Vorhand von Jones konterte sie mit einer krachenden Rückhand die Linie entlang. Eine Mondball-Sequenz ihrer Gegnerin beantwortete sie mit wuchtigen Schlägen in die Ecken, solange, bis Jones nichts anderes übrig blieb als respektvoller Applaus für so viel Mut – und die Erkenntnis: Die hat auf alles eine Antwort, und zwar eine richtig gute.

Venus Williams bei den US Open:The Venus Way
Venus Williams hat im Tennis Grenzen eingerissen und jüngeren Spielerinnen den Weg bereitet. Bei den US Open verliert die 45-Jährige ihr Erstrundenmatch – und ist trotzdem tief bewegt.
„Das ist mein Stil, das ist Eva-Tennis“, sagte Lys, 23, und dann erklärte sie diese Evolution: „Es fängt mit dem Körper an. Die Krankheit gehört zu meinem Leben. Den Rücken habe ich auch heute gespürt, das ist nun mal so. Ich weiß jedoch, dass ich selbst längere Matches nicht verlieren werde, weil ich müde werde; und ich weiß, dass ich auch zwei Tage später wieder fit sein werde.“ Aus dieser Gewissheit um die physische Stabilität entstehe das Selbstbewusstsein, so zu spielen, wie sie das wolle – oder es eine Situation erfordere: „Ich kann mich dann aufs Wesentliche konzentrieren, wenn im Hinterkopf nicht der Gedanke an die Gelenke ist.“
Lys will nicht nur ins Arthur Ashe Stadium, sondern dort gewinnen
Das Wesentliche zum Beispiel: mutiger agieren. „Die Matches zuletzt habe ich verloren, weil ich jeweils diesen Schritt zurückgegangen bin und zwei, drei Bälle erst mal nur reingespielt habe“, sagte sie: „Da habe ich recht schnell bemerkt, dass so was auf diesem neuen Level sofort bestraft wird.“ Durch die Erfolge ist sie auf Platz 59 der Weltrangliste gerückt, das bedeutet: direkte Qualifikation für die größten Turniere und häufiger Duelle gegen die Besten der Welt. „Ich habe oft gegen Top-Ten-Spielerinnen antreten müssen“, sagte sie. Die Gegnerinnen 2026: jeweils zweimal Iga Swiatek und Jasmine Paolini, dazu Jessica Pegula, Jelena Rybakina, Paula Badosa, Madison Keys. „Die Partien sind immens wichtig, selbst wenn es Niederlagen sind“, sagt sie. „Ich hatte zu Beginn zu viel Respekt. Da musste ich mir auf die Zunge beißen und einreden, mutig zu sein. Die Erfahrung hat gezeigt, dass es belohnt wird.“
Knackpunkt sei das Match gegen die Australian-Open-Siegerin Keys kürzlich in Cincinnati gewesen, bei dem Lys einen Matchball vergab und im Tiebeak des dritten Satzes verlor: „Ich habe bemerkt, dass es ein komplett anderes Level ist.“ Der Unterschied zwischen Court 6 und Arthur Ashe Stadium also. Was sie aber auch bemerkt habe: „Ich habe selbst ein Niveau erreicht, dass ich auf diesem Level mithalten kann.“ Der gestärkte Körper kräftigt den Geist, und der Geist sorgt wiederum dafür, dass der Körper mehr zu leisten imstande ist.
In Melbourne hatte Lys sich mit drei Siegen ein Duell gegen Swiatek in der größten Tennisarena Australiens erspielt – und die Niederlage als „das fröhlichste 0:6, 1:6 meiner Karriere“ bezeichnet. Völlig ausgeschlossen, dass diese komplett veränderte Tennisspielerin, dass diese neue Person – die Schultern sind nicht nur wortwörtlich breiter – das auch jetzt sagen würde. Sie will nicht nur ins Arthur Ashe Stadium, sondern dort gewinnen. Über die Zweitrundenpartie am Donnerstag gegen die an Nummer 21 gesetzte Tschechin Linda Noskova, gegen die sie in Wimbledon noch in drei Sätzen verloren hatte, sagte sie: „Ich weiß, dass ich mithalten kann und dass sie schlagbar ist.“ Jeder, der ihre Partie am Dienstag gesehen hat, dürfte urteilen: Selbsteinschätzung und Realität sind gerade identisch bei Eva Lys.

