Süddeutsche Zeitung

Turnen bei den European Championships:Die Fünf und die Bronzemedaille

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Die Riege der deutschen Turnerinnen erlebt gegen Ende ihrer gemeinsamen Zeit nochmal einen großen Moment. Die Gründe für Platz drei im Team: Zusammenhalt und Mut zum Risiko. 

Von Volker Kreisl

Am Ende flossen dann doch die Tränen. Keine Freudentränen, auch keine der Bitterkeit. Jemand hatte etwas gefragt, und die beiden Turnerinnen fingen plötzlich an zu weinen, sie umarmten sich fest, und es war ihnen dabei offensichtlich egal, dass die in der Mixed-Zone versammelte Presse gerührt, leicht betreten, aber angemessen schweigend dreinschaute.

Dabei hatte man gerade einen großartigen Abend hinter sich, vor allem die Turnerinnen, ihnen allen hing eine frisch errungene Team-Bronzemedaille der European Championships um den Hals. Doch dann, mitten in der Besprechung, wehte aus dem Journalistenpulk die Frage rüber zu Elisabeth Seitz, wie es denn jetzt weitergehe, wenn Kim Bui, ihre langjährige Trainingspartnerin im Stuttgarter Gym, demnächst nicht mehr dabei ist, weil sie ja zurücktritt? Die wichtigste Gefährtin ist bald weg, bei Seitz löste diese Bemerkung schwere Melancholie aus - vor allem nach diesem bewegenden Wettkampf in der Olympiahalle, den die Deutschen gerade hinter sich hatten.

Eine Art Film war da abgelaufen, zufällig gut 90 Minuten lang, ein Streifen also, wie man ihn vielleicht in den Achtzigern gedreht hätte. Fünf Freundinnen ziehen los, um sich nochmal einen letzten gemeinsamen Traum zu erfüllen, sie scheitern und stehen wieder auf, sie helfen sich gegenseitig und wachsen aneinander. Es entsteht die rührende Gewissheit, nicht allein zu sein, und die Medaille tatsächlich erringen zu können, und jede, Seitz, Bui, Emma Malewski, Pauline Schäfer-Betz und Sarah Voss, tragen einen entscheidenden Part bei. Schließlich steuert das Ganze auf eine große Schlussszene zu, in der sich die eine Darstellerin, die zuletzt noch bitter geschlagen war, mit einem sagenhaften Auftritt zurückmeldet.

Im Teamwettkampf war vor geraumer Zeit der Modus verschärft worden, im Sinne eines spannenden Ablaufs, in dem jeder Moment, jede Bewegung zählt: Streichwertungen gibt es nicht mehr. Von den fünf Turnerinnen, so hielten es die Deutschen unter Bundestrainer Gerben Wiersma, wurden vor jedem Gerät im Gespräch jene drei ausgesucht, die rausgehen und turnen - und jederzeit entscheidend patzen können. Man ist eine Art Seilschaft, die sich gegenseitig stützen muss, wie es auch Seitz zuvor beschrieben hat: "Dieses Team hält zusammen." Sie selbst hatte zum Auftakt gleich mal ein Beispiel gegeben.

Kim Bui erwischte einen schlechten Start am Stufenbarren, sie musste leicht korrigieren, hatte zwischenzeitlich eine krumme Beinhaltung, womit das deutsche Punktekonto schon mal ins Minus geriet. Dann aber folgte Seitz, die sich zwischen den Barrenholmen seit Jahren am besten auskennt, und die schlauchenden Schwünge, Wendungen und Salti beherrscht, ihre frühen und auch späten Medaillen bei Großveranstaltungen zeugen davon. Nach ihrem Einsatz war das Team jedenfalls wieder zurück im Kampf um Bronze.

Frankreich patzt auf dem Schwebebalken - und Pauline Schäfer-Betz nutzt die Chance

Diese Medaille konnte man auch als eine Art B-Gold empfinden, denn schnell hatte sich herausgestellt, dass die Britinnen und Italienerinnen den Titel unter sich ausmachen würden, am Ende hatte die Squadra Azzurra die nötigen Punkte mehr. Für alle anderen war schnell klar, dass es nur um Platz drei ging, Bronze war somit besonders begehrt, konkret von Frankreich, Deutschland und den Niederlanden. Team Frankreich hielt sich vorne, dann aber kam der Schwebebalken, und Wiersmas Mannschaft ging in eine erste Vorentscheidung. Die drei Französinnen erlebten jeweils einen schwarzen Moment, alle drei mussten zwischendurch absteigen, eine sogar zweimal.

Und Pauline Schäfer-Betz nutzte die Chance. Sie führte ihre Weltmeisterübung vor, mit Perfektion und Grazie, eine Übung, in der auch strenge Richter lange nach Abzügen suchen müssen. Denn alles war drin: ihr selbst kreiertes Element, der Schäfersalto mit Seitwärtslandung, ihre Doppeldrehung, ihre Flickflack-Spreiz-Überschlag-Serie den Balken entlang, und so weiter.

Das Muster: Wenn eine deutsche Turnerin schwächelt, rettet eine andere den Durchgang

Die Deutschen ahnten erstmals: Hier geht was. Doch am dritten Gerät, dem Boden, erhielten sie den ersten Dämpfer, obwohl Kim Bui hier ihre starke Übung beisteuerte. Das Muster setzte sich fort, eine rettete den Durchgang, eine andere schwächelte, diesmal war es Sarah Voss, jene Turnerin, die in der Qualifikation nach einem Sturz ihre Übungen entschärft hatte. Nun wollte sie nochmal eine Schwierigkeit der höheren Kategorie zeigen, auf der letzten Bahn peilte sie einen Doppelsalto gebückt an, kam aber wieder aus dem Gleichgewicht und lag auf der Matte.

Der Anfang vom Ende? Das ehrgeizige Projekt der fünf Freundinnen schien in diesem Moment zu scheitern. Die anderen Teams ließen nicht locker, womit sich alles am Sprungtisch, am letzten Gerät erst wirklich entscheiden würde - ein Moment, der keinen Platz mehr lässt für Kompromisse. Auf Sicherheit zu turnen, war jetzt nicht mehr drin. Wollten die Fünf also etwas Wertvolles mitnehmen von diesem Samstagnachmittag, dann mussten sie volles Risiko gehen.

Und wer konnte diese Schwierigkeit bringen? Klar: Sarah Voss, die soeben am Boden gestürzt war, die aber eine Seltenheit am Sprung im Programm hat - Radwende aufs Brett, Rückwärtskatapult auf den Tisch und zwei Längsachsen-Umdrehungen auf die Matte.

Damit hätte sie auch ein Sprungfinale erreicht, das Risiko fürs Team war aber zu groß - jetzt aber musste sie. Trainer Wiersma und Voss besprachen sich kurz und entschieden sich dann für volles Risiko. "All in" sagte Voss später, "wie im Poker." Sie lief an und warf sich in diese Übung, als wäre es nur Training. Eine Sekunde später stand sie in der Matte, ohne zu wackeln. Turner sprechen von einer Landung im Topf.

War es Können? Sicher, vielleicht war es aber auch der Effekt dieses Teams, das sich gefunden hat, das in dieser Form nicht mehr lange bestehen wird, aber an diesem Nachmittag in München noch einmal seine Sternstunde erlebt hat.

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