European Championships:Schwitzend im Wohnzimmer

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"Es fühlt sich an wie eine Klassenfahrt": 800-Meter-Olympiateilnehmerin Christina Hering beim Werbelauf durch den Olympiapark. (Foto: Thomas Vonier/Imago)

Kajak-Olympiasieger beim Entenrennen, schwitzende Kinder an der Boulder-Wand - und eine Chefin zwischen Freude und Furcht: Die Stadt München hat sich ein buntes Programm einfallen lassen, um 365 Tage vor der Eröffnung für die European Championships zu werben. Ein Rundgang.

Von Sebastian Winter

365 Tage vor den European Championships haben die Veranstalter am vergangenen Mittwoch mit einem bunten Programm den Startschuss für das größte Sportereignis in München seit den Olympischen Spielen 1972 gegeben. Auf der Theresienwiese wurde Beachvolleyball gespielt, auf dem Odeonsplatz konnten sich Passanten und Profis an Tischtennisplatten und einer Boulderwand versuchen, im Olympiapark lief 800-Meter-Spezialistin Christina Hering mit anderen Aktiven - und auf dem Olympiasee paddelten Ruderweltmeister Oliver Zeidler und Kajak-Olympiasieger Max Lemke um die Wette. Sie alle warben für die Europameisterschaften in insgesamt neun olympischen Sportarten, die vom 11. bis 21. August 2022 in München ausgetragen werden - zum Jubiläum 50 Jahre nach den Sommerspielen wird auch diesmal der Olympiapark das Herz der Wettkämpfe sein.

Das Dach der Welt

Alma Bestvater hat mit anderen Spitzensportlern am Morgen noch eine Zeltdach-Tour im Olympiapark gemacht, die Luft flirrte da schon vor Hitze, Kameras waren auch dabei. Bestvater, 25, Sportkletterin, kennt sich aus in diesen Höhen, nun ist sie Teil der Dokumentation "Class of 22", die 14 deutsche Athletinnen und Athleten auf ihrem Weg zu den European Championships begleitet. Weltmeister und Olympiasieger sind Teil der Doku, wie Ruderer Oliver Zeidler oder Kajakfahrer Max Lemke, auch die Beachvolleyballer Julius Thole und Clemens Wickler sind dabei, allerdings nicht vor Ort, sie mussten nach den Spielen in Tokio direkt weiter zur EM in Wien. Bestvater jedenfalls repräsentiert den gerade auch in München boomenden Klettersport, ist aber ganz froh, dass sich während der Kraxelei auf dem Zeltdach dann eine Wolke vor die Sonne schiebt. Die Sommerspiele in Tokio hatte die 25-jährige Sportkletterin knapp verpasst, dafür freut sie sich schon auf die Kletter- und Boulderwände am Königsplatz bei der EM in München: "Das wird mein Highlight im nächsten Jahr."

An die Platten

Tischtennis war bei den Olympischen Spielen in Tokio ein ziemlicher Renner, was nicht unbedingt am deutschen Tischtennis-Gott Timo Boll lag, der im Einzel ziemlich irdisch spielte, sondern an Dimitrij Ovtcharov, der Bronze gewann und im Halbfinale fast den außerirdischen Chinesen Ma Long schlug. Das deutsche Team gewann noch Silber, hinter China, klar, was nun trotzdem dazu führen müsste, dass die Tischtennisplatten wie schon im Frühjahr 2020 (damals im Lockdown) auf Monate hin ausverkauft sind. Am Odeonsplatz kann man diesen Boom am Mittwochnachmittag schon erspüren, kleine und große Künstler drängen sich in der prallen Sonne an sehr kleinen und mittelgroßen Platten sowie solchen mit Normgröße - und spielen beim Turnier um Tickets für die EM kommenden Sommer in der ehrwürdigen Rudi-Sedlmayer-Halle. Auch Christina Hering, die 800-Meter-Läuferin, versucht sich am Ballsport - "das macht Spaß, wir haben im Urlaub früher fast täglich gespielt". Am Turnier nimmt sie nicht teil - sie möchte ja nicht als Zuschauerin zur EM, sondern selber starten, bei den Leichtathletik-Wettkämpfen im Olympiastadion.

Auf zu neuen Zielen: Die Wahl-Münchnerin Alma Bestvater klettert am Siegestor. (Foto: Flo Hagena/oh)

Wie im Wohnzimmer

Hering, adie passionierte Tischtennis-Amateurin und noch passioniertere 800-Meter-Expertin, fühlt sich wohl am Odeonsplatz. Touristen strömen vorbei am eingegrenzten Viereck vor dem Reiterstandbild, an der Boulderwand, die auch Alma Bestvater später erklimmen wird, klettern Kinder herum, Turnabzeichen können gemacht werden, manche schwitzen bei der Ruderergometer-Challenge. Und auf einem umgebauten Bulli, der später noch in alle möglichen Ecken der Stadt fahren wird, spielen "The Ukelites". "Das ist doch gemütlich wie im Wohnzimmer hier", sagt Hering, die Olympia-Rückkehrerin, die in Tokio alles andere erlebte - nur keine Wohnzimmer-Atmosphäre. Abstand halten, Maske tragen, in der Mensa mussten sie ihr Essen mit Hygiene-Handschuhen abholen und genauso zu sich nehmen, die Tische waren durch Plexiglasscheiben getrennt. Ihr enttäuschendes Vorlauf-Aus hat das Erlebnis für Hering, die 2016 auch in Rio war, nicht gerade eindrucksvoller gemacht. Immerhin hatte sie noch einen Tag, um mit anderen Athleten ein wenig dazusitzen und zu plaudern. Das Programm mit der "Class of 22" hier in München gefällt der 26-Jährigen schon eher, "es fühlt sich an wie eine Klassenfahrt". Dann muss sie weiter, zum 5-Kilometer-Lauf im Olympiapark.

Freude und Furcht

Auch Marion Schöne ist gekommen, schicke Sonnenbrille, schickes Sommerkleid, perfekt abgestimmter Lippenstift und Nagellack, so könnte man auch zum Pferderennen nach Ascot gehen. "One year to go" heißt das Motto an diesem 11. August, ein Jahr noch, und auch für Schöne ist damit der Endspurt eingeläutet. Die Olympiapark-Chefin ist an diesem Tag eine Pendlerin, sie pendelt zwischen den Werbeplattformen. Sie ist stolz auf ihre Mitarbeiter, die diese Mammut-Sportveranstaltung binnen zwei Jahren sehr kreativ aus der Taufe heben - "normalerweise hat man vier bis sechs Jahre Vorlauf für so etwas", sagt sie. Aber sie fürchtet sich auch ein wenig - dass die Pandemie nach den Olympischen Spielen auch noch den European Championships die Zuschauer nimmt. Das wäre fatal für die 100 Millionen Euro teure Veranstaltung, die zu je einem Drittel von der Stadt, dem Freistaat und dem Bund finanziert wird, die aber auch noch 30 Millionen Euro aus Merchandising und Ticketeinnahmen generieren soll. "Wir hoffen, dass wir 2022 Zuschauer ohne Corona-Restriktionen in die Arenen lassen können. Aber wir müssen auch einen Plan B haben", sagt Schöne. Eine Szenerie wie in Tokio möchte sie in München keinesfalls erleben, leere Stadien, überall Restriktionen, Einreiseverbote für Fans, "für mich war es nicht das Olympia, wie man es sich vorstellt. Es fehlte auch am Bildschirm die Atmosphäre."

Sieger und Verlierer

Über fehlende Atmosphäre kann sich der Olympiapark nicht beklagen an diesem lauen Sommerabend, viele Flaneure sind da, das Kettenkarussell dreht sich am See, Kinder rammen sich jauchzend im Autoscooter, im Open-Air-Kino läuft "Gott, Du kannst ein Arsch sein" und im Theatron spielt "Folge der Wolke" seit 19 Uhr. Am Seeufer lassen sich zwei Männer fotografieren, der eine hochgewachsen und breitschultrig, der andere nicht ganz so groß, nicht ganz so breite Schultern. Der eine ist Oliver Zeidler, 2,03 Meter groß, 103 Kilo schwer, der Ruder-Weltmeister und Gold-Favorit in Tokio, der dann auch bei den Spielen Erster wurde - allerdings nur im B-Lauf. Der andere ist Max Lemke, frischer Olympiasieger im Kajak-Vierer. Sieger und Gefallene, so nah beisammen.

Sieger und Verlierer: Weltmeister Oliver Zeidler (li.) misst sich mit Olympiasieger Max Lemke in getauschten Booten. (Foto: Daniel Kopatsch/Getty)

Sie sind für einen Showkampf gebucht draußen auf dem Olympiasee, samt Bootstausch, Zeidler im Kajak, Lemke im Ruder-Einer, für beide völlig neues Terrain. Ein paar Stunden davor hatte Zeidler noch gesagt, "ich möchte auf jeden Fall vermeiden, da reinzufallen, weil das Wasser zu 50 Prozent aus Entenscheiße besteht". Gereinigt werden soll der Olympiasee immerhin noch, bevor die Triathleten bei den European Championships in einem Jahr für ihren Wettkampf genau in diesen See steigen, in dem Baden eigentlich verboten ist. Aber sie baden ja nicht, sie schwimmen um den Titel!

Zeidler hat sich ein paar Tage ausgeruht nach Tokio, die Enttäuschung sacken lassen, er hat sich im Eisbach abgekühlt, der erwiesenermaßen sauberer ist als der See, in dem er sich jetzt duellieren muss. Einen Monat möchte er jetzt erstmal pausieren mit Training, aber auf die EM 2022 im Rudern, in "meinem Wohnzimmer", wie er die Regattastrecke in Oberschleißheim nennt, freut er sich sehr. "Es gibt kaum eine bessere Strecke in Europa, mit tollem Wasser, und außerdem ist mein Großvater dort Olympiasieger geworden." Ja wirklich, Hans-Johann Färber gewann dort 1972 im Vierer mit Steuermann Gold. Vor vollen Rängen.

Zeidler und Lemke machen sich dann bereit, es ist kurz vor 20 Uhr, ein fast schon kitschiger Sonnenuntergang naht, dann der Startschuss. Zeidler kommt gemächlich vom Fleck, Lemke ist schneller. Doch dann verliert er seine Linie, muss mit dem Ruderblatt nachsteuern, fährt ein bisschen im Zickzack-Kurs. Zeidler wird dagegen immer schneller, kommt in den Rhythmus, holt auf. Eine Entenfamilie schwimmt vorbei, sie folgt der Wolke, doch die Athleten beachten sie nicht. Kurz vor dem Ziel hat Zeidler Lemke eingeholt - und fährt mit hauchdünnem Vorsprung ins Ziel. So werden Verlierer doch noch zu Siegern, und Sieger zu Verlierern. Nach dem Rennen ist das beiden fast egal. Hauptsache, sie sind nicht baden gegangen.

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