Ein bisschen Dank für den vergoldeten Auftakt der deutschen Marathonläufer gebührt wohl auch dem englischen Adel. Yes, indeed! Als die Olympischen Spiele 1908 in London gastierten, so besagt es die moderne Legende, wollte eine englische Prinzessin den Marathon angeblich von ihrem Fenster im Windsor-Palast aus verfolgen. Die Jury schneiderte die Strecke deshalb artig zurecht, auf exakt 42,195 Kilometer, statt der bis dato üblichen 40. Und selbst wenn es eine Gedankenspielerei ist: Wer weiß, ob der Marathonprofi Richard Ringer vom LC Rehlingen den Israeli Maru Teferi auf den letzten Metern eines 40-Kilometer-Rennens erwischt hätte, mit seinem starken Spurt, mit dem er am Montag zu einer Endzeit von 2:10:21 Stunden stiefelte - und damit zur ersten Goldmedaille für einen deutschen Marathonläufer bei Leichtathletik-Europameisterschaften überhaupt.
Ringer brach seinen Erfolg später auf eine simple Formel herunter: "Ich hatte solche Schmerzen, auf mehr kam es auch nicht mehr an." So ein kontinentaler Meistertitel scheint Schmerzen allerdings auch recht schnell wieder aus dem Körper zu treiben, so munter wie Ringer kurz nach der Zieldurchfahrt mit dem Maskottchen tanzte. Als Zugabe gab es mit den Kollegen - Amanal Petros als Vierter (2:10:31), Johannes Motschmann als 16. (2:14:52) - noch Silber in der Teamwertung, die erst seit 2016 ins EM-Medaillenranking einfließt. "Heute war es leicht, weil das Team total motiviert hat", sagte Ringer. Gemeinsam stark anzukommen, das sei für alle der wichtigste Arbeitsauftrag gewesen, seine Goldmedaille sei im Grunde nebenbei angefallen.
Die deutschen Frauen zogen in dieser Teamwertung sogar den zweiten deutschen Titel des Tages auf ihre Seite, und wer weiß: Hätten sie den Marathon vor einem Jahrhundert noch ein paar Yards länger vermessen, vielleicht hätte Miriam Dattke aus Regensburg die Brust noch vor die Niederländerin Nienke Brinkman geschoben, nachdem sie "wie zwei LKWs auf der Autobahn" nebeneinander um Bronze gerungen hatten, wie Dattke scherzte. Am Ende fehlten ihr ein paar Zehntelsekunden, nach 2:28:52 Stunden.

So sehr sie sich im Deutschen Leichtathletik-Verband um diese Erfolge drängelten, wie Fröstelnde um ein wärmendes Lagerfeuer nach der eisigen WM zuletzt in Eugene - in erster Linie durfte sich Ringer seinen Erfolg selbst ans Revers heften. Er ist oft seinen Weg gegangen, wurde behutsam von seinen Jugendtrainern Birgit und Eckhardt Sperlich ausgebildet. Während andere sich früh spezialisierten, probierte Ringer viele Strecken aus, auch im Crosslauf. Während andere im Training schufteten, lief er nicht ganz so viel und hart. Und wenn andere bei internationalen Rennen Nachwuchstitel gewannen, wurde Ringer Vierter, fluchte leise, bekam von seinen Trainern dann zu hören: "Bei den Erwachsenen zählt es!"
Heute sagt Ringer über die Ausbildung im Nachwuchs: "Es hat sich sogar verschlechtert." Es gebe immer mehr Jugend-Titelkämpfe, aber wer zu früh in Erfolge investiere, vernachlässige die Zukunft. "Lasst die Jugendlichen doch erst mal reifen", hat Ringer einmal im Gespräch gesagt.
Er ist tatsächlich nicht das schlechteste Vorbild; anders als viele Begabungen, die nach frühen Erfolgen, für die sich die Verbände gerne feiern, beim Übergang zu den Profis verglühen. Ringer reüssierte nach und nach auf der Bahn, gewann 2016 EM-Bronze über 5000 Meter, schaute sich viel von Arne Gabius ab, dem einstigen Marathon-Rekordhalter. Der jagte lieber etwas zu großen Zielen nach, als es gar nicht zu probieren. Ringer coachte sich auch eine Weile alleine, verzettelte sich, schloss sich dann erst Wolfgang Heinig an, der ihn kurz vor den Tokio-Spielen 2021 zu 2:08:49 Stunden führte. Nach Platz 26 in Tokio probierte es Ringer dann in einer europäischen Trainingsgruppe um den Belgier Tim Moriau, weil er den Austausch mit der internationalen Konkurrenz vermisste. Andere hätte es vielleicht auch aus der Bahn geworfen, wären sie in diesem Jahr mehrmals umgeknickt und hätten sich noch dazu mit einem Magen-Darm-Virus und mit Corona infiziert. Aber Ringer?
Es gebe auch wunderbares Alternativtraining, erzählte Ringer am Montag fröhlich, zu Rad, zu Wasser, auf dem Cross-Trainer (perfekt zum Filmeschauen!). Die tiefere Erkenntnis daraus war wohl, dass man nicht immer viel und hart laufen muss, um schnell Marathon zu laufen. Und dass Ringer dieses Puzzle, an dem selbst Großmeister oft verzweifeln, so gut durchschaut hat, dass er sich für Olympia 2024 eine Platzierung unter den Top acht vornimmt. "Im Marathon ist alles möglich", sagte er am Montag, wissend, dass er gerade das beste Belegexemplar eingereicht hatte.
So erzählte dieser EM-Auftakt auch wieder von den vielen Königswegen, die in der Leichtathletik zum Ziel führen. Da ist Johannes Motschmann, ein Magdeburger, der mit einem Sport-Stipendium Psychologie in New York sowie Medizin in Bochum studiert; der sich nebenbei dem Marathon-Team des SSC Berlin anschloss, wo sie den 27-Jährigen von einem mäßigen Hindernisläufer zu einem Langstreckenkönner ausbildeten. Da ist Amanal Petros, der als 16-Jähriger aus Äthiopien nach Deutschland floh, nach wie vor nicht weiß, wie es seiner Familie in der Bürgerkriegsregion Tigray geht; der zuletzt zum deutschen Marathon-Rekordhalter aufstieg und am Montag sogar die Muße hatte, sich zum kämpfenden Ringer zurückfallen zu lassen, um diesem Mut zuzusprechen - was ihn wohl die Einzelmedaille kostete.
Da ist Deborah Schöneborn, am Montag Zehnte in 2:30:35 Stunden, mit ihrer Schwester Rabea ein weiteres Gesicht des Berliner Profiteams - das auch davon erzählt, weshalb es zuletzt viele Talente in Deutschland in die Marathon-Spitze zog. Da ist Domenika Mayer, 31, eine Teilzeit-Polizeibeamtin und Vollzeit-Mutter, die in Regensburg vom Trainer Kurt Ring Richtung Marathon gelenkt wurde - wobei ihnen auch die mittlerweile längeren Qualifikationszeiträume für Großevents halfen - und die nun, im zweiten Marathon, zur Nummer sechs in Europa aufstieg (2:29:21).
Und natürlich ist da Miriam Dattke, die als 17-Jährige im Leistungszentrum in Berlin schon so verschlissen wurde, dass sie fast mit dem Laufen aufhören wollte, ehe sie unter Ring in Regensburg behutsam an die Langstrecke herangeführt wurde. Und die jetzt, mit 24 Jahren, in ihrem zweiten vollen Marathon das Feld der Favoritinnen so sehr aufwühlte, dass sie beinahe mit einer Einzelmedaille belohnt wurde. Am Ende trug sie dafür etwas mit sich, das fast noch wertvoller erschien: "Es hat mich auch darin bestärkt, dass es genau das ist, was ich machen möchte", sagte sie. "Es ist einfach schön, wenn es auch Spaß macht."
Bis auf die letzten 300 Meter vielleicht.