Süddeutsche Zeitung

Europameister:Das hässliche Entlein Portugal beendet die Melancholie

Ausgerechnet jenem Team, dem niemand etwas zugetraut hat, gelingt der EM-Triumph mit einem Heer anonymer Arbeiter. Trainer Santos hat mit seiner Prognose recht behalten.

Von Javier Cáceres, Saint-Denis

Und dann gab es da noch eine Szene, die weitgehend definierte, was von diesem Finale übrig bleiben wird. Der Pokal war noch nicht an den Sieger übergeben, aber die Freude über den 1:0-Sieg nach Verlängerung gegen Frankreich so groß, dass die Portugiesen bereits zu den Tribünenblöcken rauschten, in denen ihre Fans gesungen, gelitten und geweint hatten - erst aus Furcht, dann vor Glück. Menschen taumelten, die Menge wogte ekstatisch hin und her, während die Franzosen gebeugten Hauptes den Ausgängen entgegentrieben, das Stade de France sich allmählich leerte.

Ellbogen an Ellbogen standen die Fotografen um die Feiernden herum, balgten um die besten Plätze für ihre Bilder, rannten, schwitzten, stürzten, bis plötzlich jemandem auffiel, dass da noch jemand so freudig wie gedankenverloren an der Werbebande lehnte. Wie ein Schwarm drehte sich die Traube mit den Kameras um, um nun den Mann zu fotografieren, der das Finale präsidiert hatte, obwohl er die meiste Zeit der Partie verletzt und leidend in der Kabine zubringen musste: Cristiano Ronaldo dos Santos Aveiro, 31, genannt Ronaldo.

"Du wirst das Tor für uns erzielen", sagt Ronaldo zu Éder

"Wenn es einen Anti-Ronaldo-Plan gibt, hat ihn noch keiner gefunden", hatte Frankreichs Trainer Didier Deschamps am Final-Vorabend gesagt, und selbst wenn es wohl übertrieben wäre, Dimitri Payet die Absicht zu unterstellen, Ronaldo vom Platz zu treten - das Risiko, genau das zu erreichen, nahm Payet billigend in Kauf, als er in der 8. Minute in einen Zweikampf mit Ronaldo rauschte. Er traf ihn am Knie. Ronaldo schrie auf, krümmte sich vor Schmerz, wurde behandelt, versuchte zwei Mal, auf den Platz zurückzukehren und musste dann doch immer wieder gehen. Tränenüberströmt, verzweifelt, untröstlich. War er nicht zum Kapitän von elf Millionen Portugiesen erkoren worden? Wie nur sollte er sie nun alleine lassen?

Erst vor der Verlängerung, als die Ärzte geschwind eine Innenbanddehnung diagnostiziert hatten, kehrte er auf den Platz zurück und sprach zu den Seinen, vor allem zu jenem Mann, der in der 109. Minute das Siegtor schießen sollte, einem kantigen Stürmer namens Éder. Später verriet Ronaldo, was er ihm gesagt hatte: "Du wirst das Tor für uns erzielen. Du wirst uns die EM geben." - "Ich bin kein Hexer und auch kein Seher. Aber ich spürte, dass Éder das Siegtor schießen würde", fügte der Stürmer von Real Madrid hinzu.

In niemandem kristallisierten sich die Emotionen der Portugiesen so sehr wie in Ronaldo selbst, der nach dem Tor von Éder erneut weinte und erst recht nach dem Ende der Partie, als er, völlig übermannt vor Glück, auf den Boden sank. Seit den Tagen des großen Eusébio rannten die Portugiesen ihrem ersten Titel hinterher, Künstler wie Chalana, Rui Costa oder Figo versuchten sich vergeblich an der Heldentat.

Auch Ronaldo selbst: unvergessen seine Tränen aus dem Jahr 2004, als er mit Portugal das EM-Finale von Lissabon verlor. Gegen Griechenland, das ähnlich gewöhnlich war wie dieses portugiesische Team, das den Pokal in Saint-Denis errang - gegen den Gastgeber, was für eine Geschichte. "Dies ist ein einzigartiger Tag in meinem Leben", sagte Ronaldo, der nun wohl seinem vierten Titel als Weltfußballer des Jahres entgegenblicken darf.

Denn er hat eine Häutung erfahren, die man so nicht vermutet hätte. Er bleibt der größte Egomane unter den besten Fußballern der Geschichte. Doch im Kreise der Nationalelf war er "ein großartiger Kapitän", wie Trainer Fernando Santos berichtete, vielleicht auch, um von sich abzulenken. Denn seine Rolle war mindestens ebenso kapital wie überraschend.

Bei den drei großen portugiesischen Vereinen - Porto, Benfica, Sporting Lissabon - war er gescheitert, in den vergangenen Wochen war sein Fußball daheim zerpflückt worden. Nach seinem Motto wurde er gefragt, und der tiefgläubige Santos wartete mit einem Zitat aus dem Matthäus-Evangelium auf: "Siehe, ich sende euch wie Schafe inmitten von Wölfen; so seid nun klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben", lautet der Vers aus der Bibel, den Santos wiedergab, und der illustriert, wie er seine Gruppe zusammenschweißte gegen die Kritik dagegen, dass die Portugiesen den Fußball nach der Revolution durch die kunstvollen Spanier nicht auf eine höhere Stufe gehoben, sondern einer stilistischen Regression unterworfen haben.

Santos war das stets egal. Schon vor Wochen hatte er gesagt, dass er erst am 11. Juli nach Portugal zurückreisen und dann feiern würde. Er behielt Recht. Am Montagnachmittag säumten tatsächlich Tausende die Straßen Lissabons, um die Champions zu empfangen, und mehr als einer Feier glich es einem Exorzismus, einem religiösen Akt zur ultimativen Vertreibung der sagenumwobenen Melancholie der Portugiesen.

"Und das hässliche Entlein ist reingekommen und hat getroffen"

Sie hatten ja lange darunter gelitten, den Ruhm immer nur fast zu erreichen, das stete Scheitern frischte den Minderwertigkeits-Komplex immer wieder auf und ließ sie umso sehnsüchtiger auf den Atlantik und in jene Zeit zurückblicken, da sie Seemacht waren, Helden der Meere, Kolonisatoren.

Die Helden der Neuzeit heißen nun Rui Patricio wie der Torwart, Pepe wie der Abwehrchef, der sich nach dem Spiel vor Erschöpfung übergeben musste, Cedric wie der Rechtsverteidiger, der Ronaldo rächen wollte und Payet in den Rücken sprang. Vor allem aber heißen sie: Éderzito António Macedo Lopes, genannt Éder.

Er hatte mal bei Swansea City in der englischen Premier League gespielt und dort enttäuscht wie bei der WM 2014 in Brasilien. Dass er zurzeit in Lille zur Leihe kickt, war nur Eingeweihten bekannt, und auch bei dieser EM war er anonym geblieben, wie so viele aus diesem portugiesischen Team. Passé. In den Augen der Portugiesen sind sie nun unsterblich geworden.

"Trainer, ich werde treffen", habe Éder bei seiner Einwechslung gesagt, berichtete Trainer Santos, "und das hässliche Entlein ist reingekommen und hat getroffen. Jetzt ist er ein wunderschöner Schwan", fügte er hinzu, und es war, als spreche Santos, pars pro toto, über sein ganzes Team, das ohne Ronaldo und doch mit ihm gewann.

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SZ vom 12.07.2016/fued
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