Halbfinal-Hinspiel der Europa League:Viel mehr als nur der Grobian vom Dienst

Halbfinal-Hinspiel der Europa League: Leverkusens Anführer, der im zentralen Mittelfeld die Richtung vorgibt: Robert Andrich.

Leverkusens Anführer, der im zentralen Mittelfeld die Richtung vorgibt: Robert Andrich.

(Foto: Laci Perenyi/Imago)

Robert Andrich ist in seiner Karriere auch mal falsch abgebogen. Nun fühlt er sich "gereift", ist die Autorität im Bayer-Mittelfeld - und genießt vor dem Duell in Rom hohes Ansehen bei seinem anspruchsvollen Trainer Xabi Alonso.

Von Philipp Selldorf, Leverkusen

Ihm falle es leicht, mit Leuten zu reden, die er nicht kenne, hat Robert Andrich mal gesagt, und für einen lockeren Spruch sei er sowieso immer zu haben. Aber? "Aber manchmal habe ich das Problem, dass man relativ schnell spürt, wenn mir eine Person vielleicht nicht auf Anhieb sympathisch ist." Eine Person wie Davie Selke zum Beispiel.

Im hitzigen rheinischen Bundesliga-Derby zwischen Bayer Leverkusen und dem 1. FC Köln (1:2) am vorigen Freitag trugen der gebürtige Potsdamer Andrich und der Schorndorfer Schwabe Selke ihren eigenen Nachbarschaftsstreit aus. Es gab mehrere dezidiert unfreundliche Begegnungen. Für die miese Stimmung war vorwiegend Andrich verantwortlich, was er anschließend auch gar nicht leugnete. Selkes Fallsucht und noch mehr dessen Opfer-Theatralik waren dem Leverkusener Mittelfeldchef auf die Nerven gegangen, "und das habe ich öfter mal kundgetan." Während er diesen lakonischen Kommentar äußerte, lehnte er lässig an einem Pfosten, und das Einzige, was fehlte, war ein Streichholz zwischen den Zähnen.

Robert Andrich, 28, hat nichts dagegen, dass ihm immer wieder ein Bad-Boy-Image angehängt wird, er trägt durch sein Verhalten auf dem Rasen gern dazu bei. Dass ihn seine Vorgesetzten deshalb zum Antiaggressionstraining schicken, ist ausgeschlossen. Die Leverkusener haben im Sommer vor zwei Jahren auch deshalb 6,5 Millionen Euro für Andrich an Union Berlin bezahlt, weil "Raubein" auf seinem Steckbrief steht. Auch der Begriff "Mentalitätsspieler" ist vermerkt, womit Andrich prinzipiell einverstanden ist: "Passt schon", sagt er.

Es ist ein reiner und doch ein tiefsinniger Zufall, dass Leverkusen just zwei Tage vor dem Hinspiel des Europa-League-Halbfinals bei AS Rom (Donnerstag, 21 Uhr) an der Transferbörse erneut mit Granit Xhaka in Verbindung gebracht wurde. Der ehemalige Gladbacher Xhaka, 30, spielt seit 2016 beim FC Arsenal, und seit José Mourinho in Italien hext und coacht, hat er ungefähr 37 Mal versucht, Xhaka nach Rom zu locken. Mindestens einmal stand der Trainer kurz vor der Vollendung seines Sehnsuchtstransfers, aber dann hat Arsenal doch zu viel Geld verlangt. Daran dürfte sich vorerst auch nichts ändern, weshalb Mourinho und die Roma wohl ebenso vergeblich vom Engagement des schweizerischen Nationalelf-Kapitäns träumen wie Bayer 04.

Auch Xhaka ist bekannt für einen aggressiven Spielstil, 14 Platzverweise zieren die Bilanz im Karriereverlauf. Doch wenn er bloß wüten und schlägern würde, dann hätte er nicht seinen hohen Wert am Spielermarkt, wo er vor allem als spielstarker Stratege geschätzt wird - und das wiederum hat er mit Robert Andrich gemein, der weit mehr zu bieten hat als einen grimmigen Blick und die Attitüde des Anführers, der sich und seinen Leuten nichts bieten lässt. Andrich trägt zwar die Haare gestutzt, als hätte ihn der Friseur der Fremdenlegion behandelt, doch das Stadium des Grobians vom Dienst meint er hinter sich gelassen zu haben.

"Gereift" wähnt er sich in seiner Entwicklung als Fußballer, was sich beispielsweise darin ausdrücke, "auch mal weniger bei Rudelbildungen dabei zu sein, wenn es nicht sein muss". Als am Freitag aus dem Konflikt zwischen seinem Mitspieler Jeremie Frimpong und dem Kölner Linton Maina eine Massenschubserei entstand, schubste Andrich nicht mit. Offenbar musste er hier nicht mitrudeln, desinteressiert entfernte er sich vom Schauplatz.

Per Whatsapp erreichte ihn der Spezialauftrag von Trainer Alonso, gegen die Bayern "Libero" zu spielen

Das Treffen mit der Roma im quasi augenblicklich nach Kassenöffnung ausverkauften Stadio Olimpico ordnet Andrich "definitiv" als Teil eins der größten Spiele seiner Laufbahn ein. Ein Halbfinale im Europacup, das ist noch nicht vorgekommen in seiner Karriere, die sich als konstanter Aufstieg darstellt: Am Anfang stand die Regionalliga mit der zweiten Mannschaft von Hertha BSC, dann dritte Liga mit Dynamo Dresden und Wehen Wiesbaden, zweite Liga mit Heidenheim, erste Liga mit Union Berlin - und jetzt Europa mit dem international namhaften Konzernklub Bayer 04.

Der Weg durch die Instanzen sei "für die heutige Zeit eher speziell", sagt er, er sei halt "den einen oder anderen Umweg gegangen". Was ihn in jungen Jahren aufgehalten hat, darüber hat er in diversen Interviews aufrichtig berichtet: Die Neigung zum Ausgehen nämlich. Die Berliner Club-Szene, die an keinem Wochentag pausiert, hätte ihn fast die Karriere gekostet. Doch auch als er zwanzigjährig aus seiner leider sehr geselligen Berliner WG in die eigene Wohnung nach Dresden gezogen war, hörte der Spaß nicht auf. Ging er dort in einen Club, wurde er als Dynamo-Spieler nahezu hofiert. Dabei war er in Wahrheit oft bloß noch ein Dynamo-Tribünengast. Er spielte wenig, beim Aufstieg habe er sich "als Nichtsnutz" gefühlt, sagt er. Erst auf der nächsten Station Wiesbaden ging ihm ein Licht auf, dass seine Eltern damals mit ihren Mahnungen recht gehabt hatten, und er für das Reiseziel Bundesliga mehr tun müsste - beziehungsweise weniger ausgehen dürfte.

Mit dem Modewort reflektiert ist Andrich nicht falsch beschrieben. Über seine Jugendsünden redet er offenherzig mit allen, die ihn danach fragen, inklusive der Vereinszeitung, und es klingt weder angeberisch noch selbstgefällig. Reden kann er übrigens hervorragend. Er habe "immer ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein" gehabt, sagt er, "früher gipfelte das auch oft in Arroganz". Er wollte als starker Typ mit eigener Meinung gesehen werden, bloß dass die Meinung nicht immer von Verstand getragen war - "das ist auf Dauer immer mehr nach hinten losgegangen". Heutzutage erzählt er den jungen Bayer-Spielern schon mal, was sie besser machen könnten. Er selbst, lässt er wissen, habe in ihrem Alter auf solche Ratschläge grundsätzlich nicht gehört.

Viele Leute sehen Andrich nicht nur als Bayers zentrale Autoritätsperson auf dem Spielfeld, sondern auch als Bayers heimlichen Teamkapitän. Zu ihnen gehört womöglich auch Xabi Alonso. Das hohe Ansehen als Fußballer, das Andrich bei seinem naturgemäß anspruchsvollen Trainer genießt, dokumentiert eine von dem Spieler selbst geleakte Whatsapp-Nachricht. Alonso verschickte sie vor dem Spiel gegen den FC Bayern vor einigen Wochen, sie erreichte Andrich nach dem Mittagsschlaf: "Rob, Du spielst heute wieder Libero", lautete der Wortlaut, der nach einer codierten Botschaft klingt - kein Trainer auf der Welt verschickt solche Einsatzbefehle, der Libero ist schließlich Geschichte wie der Brontosaurus. Oder etwa nicht? Andrich jedenfalls widerlegte die These beim 2:1-Sieg gegen die Bayern.

Als er die exklusive Whatsapp erhielt, hatte sich der Adressat gefreut, weil er wusste, dass er dann mehr Ballaktionen haben werde als auf seiner Stammposition als Sechser. Später hieß es, dieser Schachzug sei Alonsos Meisterstück gewesen, doch der Trainer hat vor allem seinen Vertrauten Andrich gelobt: "Wie er die Position verstanden und aufgebaut hat - Rob hat das unglaublich gemacht." Fast wie damals ein gewisser Xabier "Xabi" Alonso.

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