Süddeutsche Zeitung

Europa League:Ehrenretter

Außer Rand und Band: Eintracht Frankfurt schwelgt nach dem Halbfinaleinzug in vollkommener Glückseligkeit.

Von Philipp Selldorf, Frankfurt

Während Eintracht Frankfurts portugiesischer Angreifer Goncalo Paciencia auf dem Hosenboden krabbelnd um den Ball und ein paar Sekunden Restspielzeit kämpfte und dabei aussah wie jemand, der für diesen Ball und diese Sekunden sein Leben geben würde und das seiner Kinder und Kindeskinder dazu, öffneten sich hinter diesem rührend hingebungsvollen Schauspiel die Schleusen zur Fankurve und gaben einer wachsenden und gleich womöglich riesengroßen Menschenmenge den Weg in den Innenraum frei. Die Augenzeugen im Frankfurter Stadion bekamen Gelegenheit darüber nachzudenken, was beunruhigender ist: Wenn sich Fans in ihrem Block Sturmhauben überziehen, Raketen zünden und drohend die Fäuste schwingen? Oder wenn Fans ihre Oberbekleidung ablegen und sich anschicken, vor lauter Freude halb nackt das Feld zu stürmen?

Man hat später auf Seiten der Eintracht all das Glück nicht fassen können nach dem 2:0-Sieg gegen Benfica Lissabon und dem Erreichen des Halbfinales in der Europa League, in dem es nun gegen den FC Chelsea geht. Und natürlich fielen bei den Ehrenrettern der Bundesliga ständig auch Worte wie "Sensation" und "Wunder", aber das größte Mirakel geschah in jenem Moment, als sich ein einzelner mutiger Ordner in einem hoffnungslosen Kraftakt gegen die Werbebande hinter dem Tor stemmte, hinter der die wachsende Schar enthemmter Eintracht-Anhänger herandrängte. Es war klar, dass er gegen den Druck der Masse die Barriere nicht verteidigen könnte, die prompt auf ganzer Länge fiel. Doch dann passierte: nichts.

Die Fans, für die es eben noch kein Halten mehr zu geben schien, stoppten den Vormarsch und übertraten die Linie zum Rasen und ins möglicherweise folgenschwere Chaos nicht. Die Frankfurter Spieler und Funktionäre sahen es voller Erleichterung. "Natürlich hat man erst mal ein bisschen Angst", sagte später der Sportvorstand Fredi Bobic, "aber das war einfach diese pure Freude, es war Glückseligkeit und keine Aggressivität dabei." Einen Platzsturm hätte die Uefa vermutlich nicht toleriert, die wilde Frankfurter Fan-Gemeinde steht nach mehreren Vorfällen längst unter Beobachtung des Europa-Verbandes; fürs Halbfinale hätte ein Spiel in London ohne Eintracht-Fans gedroht.

Das hätte einen traurigen Akzent auf diesen wunderbaren Abend gesetzt, wenn er zum Fall fürs Disziplinargericht geraten wäre, und es würde den weiteren Erfolgsaussichten der Frankfurter Europa-Tournee heftig schaden, wenn sich die Uefa genötigt sähe, strafhalber die Kurve zu sperren. Die symbiotische Verbindung zwischen Team und Publikum war auch in dieser Nacht einzigartig, nicht nur was den harten Kern betraf. "Das Fluidum ist in allen Ecken", sagte Vorstandsmitglied Axel Hellmann, "diese Gesamt-Atmosphäre holt alles aus den Spielern raus."

Von dieser Aura können die Profis gar nicht genug bekommen. Filip Kostic forderte nach seinem Tor zum 1:0 (36.) gestikulierend noch mehr Jubel und Krach von den Rängen ein, obwohl von dort ohnehin längst Fanatismus in konzentrierter Form hervorging. Selbst Fehlpässe der Frankfurter wurden frenetisch beklatscht, jede Wortmeldung aus Benficas Fan-Block niedergepfiffen. Diese Stimmung sei "wie ein Zaubertrank", sagte Hellmann.

Tatsächlich schien mancher Frankfurter Spieler magisch angetrieben zu werden, reihum herrschte der Heldengeist von Spartanern. Ständig nahm es Stürmer Ante Rebic mit zwei, dann drei, dann vier Gegenspielern auf und behielt trotzdem den Ball, während der unglaubliche Kostic wohl immer noch Soli und Flankenläufe starten würde, wenn ihn nicht um kurz vor elf der Abpfiff ereilt hätte. Sebastian Rode, Schütze des 2:0 (67.), warf sich mit dem Kopf voran in einen bodennahen Zweikampf, und der Verteidiger Simon Falette, der seit Januar nicht mehr gespielt hatte und für den verletzten Martin Hinteregger eingesprungen war, bekam es mit Krämpfen zu tun, die selbst dem Zuschauer wehtaten. Doch seine letzte Aktion vor der Auswechslung war eine extrem gewagte Grätsche im Strafraum, für die er nur eine einzige Erklärung hatte: "Determination", Entschlossenheit.

Dies war das Motto des Abends, und so darf sich der FC Augsburg immer noch glücklich schätzen, dass er beim 3:1-Sieg am Sonntag eine Eintracht im Zwischenstadium antraf. "Man will es ja nicht sagen", gestand Rode, "aber international sind die Sinne noch mal ein bisschen mehr geschärft." Hellmann vermutet eine Art Autosuggestion: "Ich glaube, die Spieler sind in einem Europa-Tunnel."

Nüchtern betrachtet, war es keine Partie von großer Pracht und Finesse, aber dafür aus Sicht der Hausherren "ein nahezu perfektes Spiel", wie Rode feststellte. Benficas spielerische Vorteile konterte die Eintracht mit Disziplin und überwältigendem Teamwork, bis auf den späten Pfostenschuss des eingewechselten Salvio kamen die Gäste einem Tor selten nahe.

Halbfinale – Hinspiele

Eintr. Frankfurt - FC Chelsea Do., 2.5., 21.00

FC Arsenal - FC Valencia Do., 2.5., 21.00

Rückspiele: Do., 9.5.

Auch die Frankfurter gaben nicht viele Torschüsse ab, und in einem wesentlichen Moment kam ihnen das fragwürdige Regelwerk der Uefa zur Hilfe. Beim 1:0 stand Kostic deutlich im Abseits, aber die verzweifelten Rufe der Benfica-Bank nach dem Videobeweis gingen ins Leere: Den Videobeweis gibt es in der Champions League, im viel zu gering geschätzten kleinen Schwesterbetrieb aber erst im Finale. Dafür ist der Torrichter im Einsatz, der sich wie üblich als nutzlos erwies.

In solchen Spielen habe man manchmal das Glück und manchmal das Pech, "wir haben diesmal Glück gehabt, doch es war trotzdem verdient", sagte Trainer Adi Hütter. So durfte man es sehen, Chelsea sollte gewarnt sein. "Vielleicht", befand Axel Hellmann, "müssen wir uns langsam daran gewöhnen, dass wir das können."

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Quelle:
SZ vom 20.04.2019
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