Atletico Madrid in der Europa League:Zauberer mit Killerfüßen

Olympique Marseille - Atlético Madrid

Antoine Griezmann musste Frankreich erst verlassen, um mit Atletico Madrid seinen ersten internationalen Titel zu holen - in Lyon.

(Foto: dpa)
  • Das Finale der Europa League wird zur Show von Antoine Griezmann.
  • Der Franzose schenkt Atletico Madrid gegen Marseille mit zwei Toren den Titel.
  • Bei den Madrilenen endet mit dem Triumph der Zyklus einer großen Mannschaft, zu der auch der ewige Fernando Torres zählt.

Von Jonas Beckenkamp

Es war ein Abend voller flirrender Bilder und mittendrin spielten sich lauter kleine Geschichten ab, dabei ging es doch nur um die Europa League. Als dieser Wettbewerb noch Uefa-Cup hieß, nannte ihn Franz Beckenbauer mal "Cup der Verlierer", aber wer wollte angesichts dieser Szenen noch dem Kaiser zustimmen? Atletico Madrid bestimmt nicht, denn dieses Team aus Arbeitern, Künstlern, Straßenkämpfern und Strategen feierte den 3:0-Triumph über Olympique Marseille in diesem Finale wie einen bei den Großen, drüben in der Champions League.

Und so handelte die beste Geschichte dieses Duells der zweiten Reihe von einer Mannschaft, die zur rechten Zeit endlich ihren ersehnten Titel gewann. Allzu oft hatten es die "Colchoneros" aus Madrid ja versucht, sie hatten 2014 und 2016 zwei Champions-League-Finals verloren, beide Male auf dramatische Weise. Auch wegen dieser schweren Wunden sind die Erfolge in der Europa League von 2010 und 2012 schon etwas verblasst. Doch diesmal krallten sich die Spanier den Pokal, der sie für vieles entschädigt. Und was für Typen dieses Team doch hat: Hinten den Großmeister der Grätsche, Diego Godin. Im Mittelfeld den Kurvendribbler Saul Niguez, an den auch der FC Bayern gewisse Erinnerungen hat.

Und natürlich den kühlsten Vollstrecker des europischen Fußballs, Antoine Griezmann, der zwei Tore erzielte und sogar so generös war, das dritte einem anderen Atletico-Protagonisten zu überlassen: Dem alten Gabi, dessen Tränensäcke unter den Augen darüber hinwegtäuschen, was für ein pompös guter Fußballer er ist. Der Kapitän war es auch, der gemeinsam mit Fernando Torres, den sie trotz seiner 34 Jahre immer noch "El Nino" (der Junge) nennen, die Trophäe in die Luft stemmte. Torres durfte seinen ersten Titel mit der ewigen Liebe Atletico feiern, nachdem er zum Abschied in die Rente noch für zwei Minütchen eingwechselt wurde - auch das, natürlich, was fürs Herz.

Speziellen Anstrich erfuhr die "Krönung in Lyon", so die Sportzeitung As, auch durch die Tatsache, dass bei den Madrilenen ein Zyklus endet. Dieses Team wird in der aktuellen Besetzung wohl nicht fortbestehen: Torhüter Jan Oblak könnte es anderswo hinziehen, Torres pendelt zwischen einem Karriereabend in Japan oder Amerika und Griezmann dürfte den Avancen aus Barcelona wohl nicht widerstehen. Im Gespräch ist eine Ablöse von mehr als 100 Millionen Euro. "Ich bin sehr glücklich, wir werden das heute richtig feiern", sagte der kleine Mann mit den Killerfüßen, der seinen ersten internationalen Erfolg mit Atletico ausgerechnet da feierte, wo er einst verschmäht wurde.

"Zauberer" und "Koloss" - aber bleibt er?

Griezmann stammt aus der Nähe von Lyon, doch in allen Jugendakademien der Gegend befand man ihn damals für zu schmalbrüstig, weshalb er früh nach San Sebastian wechselte: "Ich habe heute an alles zurückgedacht, was ich erlebt habe, seit ich mit 14 Jahren mein Elternhaus verlassen habe. Ich hoffe, noch weitere Momente wie diesen zu erleben", sagte er. Nur seine künftige Arbeitsstätte ließ er im Ungewissen: "Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, über meine Zukunft zu sprechen. Jetzt möchte ich genießen, dass ich einen Titel gewonnen habe", sagte der 27-Jährige.

Ihm gehörten folgerichtig die Zeilen mit den dicksten Buchstaben in der spanischen Presse. "Griezmann, der Zauberer" titelte das Magazin Sport, Mundo Deportivo nannte ihn einen "Koloss". Seine Treffer waren typische Griezmann-Aktionen, als er erst einen verheerenden Stockfehler von Marseilles André-Frank Zambo ausnützte und dann die Kugel in vollem Tempo vorbei an Olympique-Keeper Mandanda löffelte. Griezmann bewies es wieder einmal: Kein Stürmer der Welt außer Messi (und vielleicht Mohamad Salah) beherrscht Körper, Ball und Torschussbewegung mit solcher Sicherheit, wenn er nur den Bruchteil einer Sekunde Zeit hat.

Und so setzte seine Vorstellung große Gefühle frei. Natürlich auch beim emotionalsten aller Fußballtrainer, Diego Simeone, der die Partie nicht von der Seitenlinie coachen durfte, weil er eine Sperre von sechs Spielen absitzen muss. "Ich hoffe, dass Griezmann sich hier weiterhin wohl fühlt. Vielleicht macht er ja doch bei uns weiter, denn wir sind ja nicht so weit von den Klubs entfernt, die eigentlich viel mächtiger sind als wir." Das Dogma vom Außenseiter, vom vermeintlich kleinen Atletico in der Gesellschaft der Schicken und Reichen - auch dieses Selbstverständnis hat Simeones Mannschaft immer stark gemacht.

"Er muss das selbst entscheiden", empfahl der Argentinier seinem besten Torschützen, den Atletico selbst mit 100 Millionen kaum ersetzen kann, "wenn er doch bleibt, werden wir sicher noch besser. Wenn er geht, sind wir ihm einfach dankbar für alles." Diese Erkenntnis dürfte das Underdog-Volk von "Atleti" versöhnen: Die Geschichte dieses außergewöhnlichen Klubs geht weiter. Und die flirrenden Bilder der Nacht von Lyon haben sich in den Köpfen eingebrannt.

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