Julian Nagelsmann merkte schnell, dass diesmal etwas anders ist als sonst. Sehr oft saß er in diesem Pressesaal in der Münchner Arena, erklärte Siege (viele) und Niederlagen (wenige, aber genug, um ihm das Vertrauen zu entziehen); das Wappen des FC Bayern schwebte als Schatten aus der Vergangenheit dunkel über ihm und der von vier Strahlern hell erleuchteten Sponsorenwand. „Finde nur ich das, oder ist es hier sehr unruhig?“, fragte Nagelsmann nach wenigen Minuten auf dem Pressepodium in die Runde. Der Eindruck des Bundestrainers täuschte nicht. Mindestens 150 Journalisten saßen auf den roten Polstersitzen, im angeschlossenen und nur durch Pappaufsteller getrennten Arbeitsbereich tippten noch mal ein Dutzend Pressevertreter ihre Nachrichten geräuschvoll in die Laptops. Es war ein Treiben, wie es selbst bei wichtigen Verkündungen des FC Bayern nicht herrscht.
Nagelsmann mahnte den Raum zu mehr Ruhe, „wie in der Schule“, merkte er lächelnd an, und die zur Mäßigung Aufgerufenen folgten seinen Worten. Dann fuhr Nagelsmann in seinem weißen Hemd mit der Beantwortung der Fragen fort, nach dem morgigen Gegner Schottland („Gefährlich, haben sich taktisch weiterentwickelt, spielen nicht nur weit und hoch“) und der Verletztensituation im Team („Alle sind bei hundert Prozent, auch Leroy Sané“).

Neuers Torwarttrainer:„Deutschland muss sich keine Sorgen machen“
Wackelt zum EM-Start ausgerechnet die deutsche Nummer eins? Michael Rechner, der Torwarttrainer von Manuel Neuer beim FC Bayern, verteidigt den Schlussmann vehement. Die Debatte um Neuers jüngste Fehler empfindet er als „oberflächlich“.
Vor der WM in Katar, so erzählte es Nagelsmanns Vorgänger Hansi Flick einmal, habe ihn wiederum sein Vorgänger, Joachim Löw, davor gewarnt, dass die Aufmerksamkeit bei einem großen Turnier nochmals eine andere ist, als er das gewohnt sei. Die Debatten sind schärfer, das Rampenlicht heller und die Wichtigkeit mancher Sätze tendiert zumindest gefühlt Richtung Bundeskanzler statt Bundestrainer. Flick, jahrelang Löws Assistent und auch Trainer des FC Bayern, bestätigte später, dass die Wucht eine spezielle sei. Und auch Nagelsmann merkt nun nicht nur durch die ungewohnte Unruhe im eigentlich gewohnten Pressesaal sehr früh, dass mit dieser Heim-EM etwas Großes auf ihn zukommt. Ein Indiz dafür ist auch, dass Nagelsmann nicht nur Respekt hat, sondern das auch zugibt.
„Es ist ein sehr besonderes Gefühl, die Vorfreude ist groß, ich bin auch ein bisschen nervös. Aber das war ich auch vor jeder Matheaufgabe, damals ging es nicht so gut aus, diesmal klappt es hoffentlich besser“, sagte Nagelsmann. Dass er, einmal rhetorisch in der Schul-Analogie gelandet, dort weitermacht, ist typisch für ihn, dass er Nervosität zugibt, eher nicht. Er sagte auch, er habe auf der Fahrt zum Pressetermin seinen Assistenten Benjamin Glück daran erinnert, dass sie beide aus kleinen Dörfern kämen, die „mehr Kühe als Einwohner“ hätten, und dass sie beide nun das Eröffnungsspiel einer Heim-EM bestreiten würden. „Das ist schon ein sehr besonderes Gefühl. Das ist sehr emotional.“ Nagelsmann kommt aus Issing bei Landsberg am Lech, Glück aus Ohlstadt nördlich von Garmisch-Partenkirchen. Die Botschaft überbrachte Nagelsmann seinem während der Fahrt neben ihm sitzenden Assistenten übrigens per Chatnachricht, weil er seine „gute Playlist nicht unterbrechen wollte“. Auch das ist wiederum typisch.

Deutscher Kader:26 für ein Halleluja
Macht der "Connector" Thomas Müller endlich sein erstes EM-Tor? Wie fügen sich die Neulinge Aleksandar Pavlovic und Maximilian Beier ins Team ein? Wer wird Erstworker und wer Zweitworker? Und gelingt Toni Kroos ein Abschied als großer Dirigent? Der deutsche EM-Kader im Überblick.
Gündogan hofft, „das deutsche Volk mit Stolz“ vertreten zu dürfen
Eine Botschaft hatte der Bundestrainer auch mitgebracht: Nachdem er die Journalisten zur Ruhe aufgerufen hatte, bat er die deutschen Fans explizit um lautstarke Anfeuerung. „Ich freue mich zwar, wenn ich die Spieler erreiche. Aber morgen drücke ich auch mal ein Auge zu, wenn es nicht so ist. Es ist enorm wichtig. Wir müssen den Heimvorteil, den wir haben, auch irgendwie nutzen.“ Der Wunsch ist nachvollziehbar, die Umsetzung wird schwierig, vor allem, weil die schottischen Fans schon den ganzen Tag über in München bewiesen, dass lautes Singen neben ausdauerndem Trinken zu ihren Kernkompetenzen gehört.
Nagelsmann weiß natürlich, dass ein guter Start ins Turnier diesmal vielleicht noch wichtiger ist als sonst, gerade an dem Ort, an dem Philipp Lahm 2006 mit seinem Tor gegen Costa Rica die erfolgreiche Weltmeisterschaft einleitete. Diesen Eindruck teilte auch Ilkay Gündogan, sein Kapitän, der nach Nagelsmann das Podium betrat. Dass ein Spiel die Stimmung bestimme, das gelte für „kein Spiel so sehr wie für das erste“, sagte Gündogan. Wie Nagelsmann in sein erstes Turnier als Bundestrainer geht, geht Gündogan in seine Premiere als Mannschaftskapitän. Ein „Riesenprivileg“ sei es, dabei zu sein. Und so wie Nagelsmann sich an seine Herkunft erinnerte, erinnerte sich Gündogan daran, wie er 2006 als 15-jähriger Jugendlicher auf den Fanfesten mitfieberte. „Ich hoffe, das deutsche Volk mit Stolz vertreten zu dürfen“, sagte er. Während Gündogan das sagte, hatte Nagelsmann sich heimlich in die erste Reihe gesetzt und verfolgte die Ausführungen seines Kapitäns. Natürlich ohne Unruhe zu verbreiten.

