Süddeutsche Zeitung

Essay:Was kann ein Sportjournalist noch glauben?

Korrupte Funktionäre, Athleten unter Drogen: Im Spitzensport wird gelogen und betrogen. Für den Sportjournalismus heißt das: Bitte zweifeln! Aber nicht verzweifeln.

Essay von Claudio Catuogno

Süßes Frühstück mit einer Doppel-Olympiasiegerin. Britta Steffen ist mit dem Fahrrad gekommen, einem vernünftig-unscheinbaren Modell, das selbst in Berlin nicht geklaut wird, aber sie kettet es trotzdem an einen Laternenpfahl. Sicher ist sicher. Das Café hat sie vorgeschlagen, man kann draußen auf dem Gehsteig in der Sonne sitzen. Und die hausgemachte Nougatcreme, die ist hier übrigens ein Traum!

Was Sportler so zu sich nehmen, ist eine generell spannende Frage, und wenn eine Olympiasiegerin vorschlägt, man könne sich doch die "Süße Etagere" teilen, Bio-Croissants, Obst aus regionalem Anbau, dazu die beste Bio-Nougatcreme in Prenzlauer Berg, dann würde wahrscheinlich nur der größte Sportreporter-Trampel stattdessen eine Leberkässemmel bestellen.

Nach Rückschlägen gewinnt Steffen zwei Goldmedaillen bei Olympia

Nach 60 Minuten soll man eigentlich wieder gehen, so ist es mit ihrem Management besprochen, aber wenn zwei erwachsene Menschen über ein gemeinsames Thema ins Gespräch kommen, die erfolgreichste deutsche Schwimmerin und ein Reporter, der diese Karriere von der ersten Medaille an verfolgt hat, dann kann aus einer halben Stunde schnell ein dreiviertel Vormittag werden. Viele mögen das für ein Privileg halten: Frühstücken mit einer Sportlerin, die man sonst nur aus dem Fernsehen kennt. Tatsächlich besteht das Privileg darin, dass man nach solchen Interviews immer klüger ist als vorher, wenn auch nicht immer in jeder Hinsicht.

Ein Sportlerinnenleben im Zeitraffer. Frühe Erfolge. Zweifel und Rückschläge. Der große Triumph: zwei Goldmedaillen bei den Sommerspielen 2008 in Peking, 50 und 100 Meter Freistil, seither ist Britta Steffen auch Leuten ein Begriff, die sich für Schwimmsport ansonsten ausgesprochen gar nicht interessieren. Dann die Zukunft: Pläne, Ziele, Träume. Ihr Wirtschaftsingenieur-Studium, Schwerpunkt Umwelt und Nachhaltigkeit.

Die aktuellen Nachrichten aus dem Sport: Viel Korruption, viel Doping

Berlin in der Frühsommersonne, eine Bio-Sportlerin knabbert Bio-Obst . . . und wie um Himmels willen stellt man da jetzt die verdammte Doping-Frage?

Ein paar aktuelle Nachrichten aus der Welt des Sports: Marija Scharapowa, die bestverdienende Tennisspielerin des Planeten, hat über Jahre ein lettisches Herzmedikament geschluckt, auch noch nach dessen Verbot durch die Welt-Anti-Doping-Agentur Wada im Januar 2016. Jetzt wird Scharapowa wohl für eine Weile gesperrt. Die russischen Leichtathleten dürfen schon seit vergangenem Jahr nicht mehr mitmachen, weil in ihrer Heimat ein staatlich abgesichertes Doping-Netzwerk enttarnt wurde; Medaillen um wirklich jeden Preis, das ist unter Wladimir Putin quasi Regierungsprogramm. Lamine Diack, 16 Jahre lang der Präsident des Leichtathletik-Weltverbands IAAF, steht in Frankreich unter Hausarrest: Mit Hilfe seines Sohnes soll er positiv getestete Athleten erpresst haben. Geld her, Sperre weg, so lief das offenbar über Jahre.

Des Dopings überführte oder verdächtigte Sportler der letzten Tage: 200-Meter-Sprinter Rouven Christ aus Saarbrücken. Marathon-Shootingstar Tsegaye Mekonnen aus Äthiopien. Baseball-Profi Abraham Almonte von den Cleveland Indians. Zwei Ringer des deutschen Meisters ASV Nendingen. Außerdem ein Dutzend Läufer aus Afrika. Und gut 100 Osteuropäer, die alle das lettische Herzmedikament schluckten, darunter ein Eisschnelllauf-Weltmeister sowie ein Volleyball-Nationalspieler.

Und dann noch diese Geschichte: Nikita Kamajew, als Chef der russischen Anti-Doping-Behörde Rusada lange eine Schlüsselfigur in dem falschen Spiel, wollte ein paar Geschichten aus dem Maschinenraum der Medaillenproduktion erzählen. Jetzt ist er tot, mit 52. Angeblich Herzversagen.

Junge, durchtrainierte Athleten werfen massenweise ein Herzmedikament ein, weil sie sich davon die entscheidenden Hundertstelsekunden versprechen - und derjenige, der über den Wahnsinn mal reden wollte, als Kronzeuge, dessen Herz hört plötzlich zu schlagen auf. Griffiger kann man den Zustand des Sports kaum zusammenfassen. Der Sport ist herzkrank.

Aber er liefert halt auch weiter diese hochvitalen Bilder: die gespannten Muskelstränge der Sprint-Giganten auf der Tartanbahn, der Wagemut der Ski-Helden beim Sprung über die Hausbergkante, das entscheidende Laufduell zweier Fußballstars in der Nachspielzeit einer Champions-League-Partie. Alles in Superzeitlupe. Sportler kehren ihr Innerstes nach außen im Moment von Triumph oder Niederlage, Tränen des Glücks, Tränen der Enttäuschung. Man muss auch als Sportreporter schon ein gefühlsbefreiter Holzklotz sein, um sich diesen Emotionen zu entziehen.

Eigentlich müsste man auf den Sportteil eine Warnung drucken wie auf Zigarettenpackungen

Aber irgendwann wird man darüber reden müssen, ob man nicht vorne auf den Sportteil so eine Warnung drucken sollte wie auf Zigarettenpackungen: "Achtung, Spitzensport kann Ihre Arglosigkeit gefährden." - "Wer sich mit Olympiasiegern freut, riskiert ein böses Erwachen." Oder gleich eine Auswahl an Schockfotos? Der Doping-Opfer-Hilfe-Verein (DOH), der viele Hundert kranke Ex-Sportler vertritt, von denen die meisten noch in der DDR mit Anabolika abgefüllt wurden, wäre bei der Motivsuche sicher behilflich. "Ehemaliger Hammerwerfer am Dialysegerät". Oder: "Schwerbehindertes Kind einer früheren Langläuferin". Oder: "Ehemaliger Gewichtheber, bewegungsunfähig".

Genau da beginnt die Sache kompliziert zu werden. Von 19 Zigaretten in einer Packung verursachen alle 19 gleich viel oder wenig Lungenkrebs. Wenn aber acht Schwimmer in einem olympischen Finale auf den Startblock klettern: Wie viele haben dann illegal nachgeholfen? Einer? Die Hälfte? Alle acht? Wer lügt einen an? Und wem tut man unrecht, wenn man ihn mit unter Generalverdacht stellt, einfach weil der Spitzensport nun mal so ist, wie er ist?

Der Sportreporter will den Menschen glauben, mit denen er zu tun hat. Darf er das noch?

Das süße Frühstück mit Britta Steffen ist schon ein paar Jahre her. 2013 hat sie ihre Karriere beendet, sie ist inzwischen 32, hält Vorträge über Motivation und hat in Berlin ein Ökohaus gebaut. Aber der Vormittag auf dem Gehsteig in Prenzlauer Berg, eine Weile vor den Olympischen Spielen 2012, ist einem noch in starker Erinnerung. Weniger wegen der Nougatcreme. Sondern weil man die Doping-Frage ausnahmsweise mal gar nicht stellen musste. Britta Steffen kam einfach selbst auf das Thema zu sprechen. "Das ist wie mit dem Doping", begann sie irgendwann einen Satz, und dann erzählte sie, wie hilflos sie sich bei dem Thema fühle. Weniger, weil sie nie wisse, welchen Konkurrentinnen sie glauben solle und welchen nicht. Eher, weil sie nicht wisse, was sie eigentlich noch tun könne, damit man ihr glaubt.

Sie hat sogar mal bei der Nationalen Anti-Doping-Agentur in Bonn angerufen und gebeten, endlich wieder einen Kontrolleur vorbeizuschicken. Sie hat angeboten, sich einen Peilsender an den Knöchel zu tackern und sich lückenlos überwachen zu lassen. Das ist aber alles nicht vorgesehen. Britta Steffen hat damals auch erzählt, wie andere deutsche Schwimmer ihr manchmal zuraunen: "Wenn du diese Aminosäuren nehmen würdest, die alle nehmen, du könntest noch schneller sein!" Aminosäuren sind ein noch größerer Schrei als lettische Herztabletten - legal. Und Britta Steffen hat erzählt, was sie dann immer antwortet: dass sie aus Überzeugung keine einzige Tablette anrührt, kein Nahrungsergänzungsmittel, kein Magnesiumpulver, keinen Eiweißshake. Nichts. Außer, sie ist wirklich krank. "Aber wenn ich statt Aminosäuren jeden Tage eine Banane esse, bleibe ich wahrscheinlich gesünder."

Der Sportreporter will den Menschen glauben, mit denen er zu tun hat. Aber darf er das?

Weltrekorde, Olympiasiege, WM-Titel - und alles mit (fair gehandelten) Bananen.

Dann ist Britta Steffen irgendwann wieder fortgeradelt. Und man ist noch eine Weile sitzen geblieben in dieser Bio-Leistungssport-Nachhaltigkeitskulisse und der Frage nachgehangen, was das jetzt eigentlich war. Ein Treffen mit einer außergewöhnlich authentischen jungen Frau, die ihren Prinzipien treu geblieben ist? Oder, in diesem Fall wirklich kaum vorstellbar: doch die perfekte Inszenierung?

Der Sportreporter: Auch er will den Menschen glauben, mit denen er zu tun hat. Vor allem den netten, den authentischen. Darf er ihnen noch glauben?

Man könnte wütend werden, zynisch, abgestumpft mit jeder neuen Betrugsstory aus der Parallelwelt. Aber man kann ja auch versuchen, die Doppelbödigkeit als Herausforderung zu begreifen. Man kann sich mit den Netzwerken befassen, in die jeder Athlet eingebunden ist: Trainer, Manager, Ärzte. Man kann das Milieu beschreiben, in dem eine Leistung erbracht wird: Wenn nun schon die fünfte Läuferin des letzten 1500-Meter-Olympiafinales, die Türkin Gamze Bulut, unter Dopingverdacht steht - wie unbefangen kann man da noch an kommende 1500-Meter-Rennen herangehen? Man kann mit Wissenschaftlern darüber sprechen, wie sich über die Jahre die Blutbilder verändert haben: Wie Verbände zum Beispiel für den Sauerstoff-Transporteur Hämoglobin einen Grenzwert festlegen und sich die realen Werte vieler Sportler - so ein Zufall! - diesem Grenzwert bald sehr exakt annähern. Man kann Funktionäre hinterfragen wie den IOC-Präsidenten Thomas Bach, der dem Publikum gern seinen "Zehn-Punkte-Plan gegen Doping" anpreist, der aber jahrelang im Hintergrund alle Hebel in Bewegung gesetzt hat, um in Deutschland ein Anti-Doping-Gesetz zu verhindern.

Und ganz generell würde es schon helfen, wenn aus Sprint-Giganten wieder Leichtathleten würden, aus Ski-Helden Skifahrer und aus Fußballstars Profifußballer. Für die Verklärung von Athleten zu Helden ist wirklich schon zu viel passiert.

Aber wenn man sich dann gegenübersitzt, zum Interview im Straßencafé oder in der Trainingshalle, dann wird das Thema halt doch manchmal ein sehr privates. Da kann man nur immer wieder sagen: "Und jetzt reden wir mal über Doping", sein Gegenüber beobachten, erspüren, ob jemand eigentlich den Zirkus hinterfragt, in dem er die Hauptattraktion ist. Und irgendwann kann man die Geschichte dann nur glauben oder nicht glauben. Ja, nein, vielleicht.

Doping ist fast immer die ganz große Lebenslüge

Solche Doping-Fragen sind übrigens leichter geworden. Wenn man einem Olympiasieger vor zehn Jahren mit dem Thema gekommen ist, konnte es passieren, dass er aufstand und ging. Heute ist das nicht mehr so. Wer heute Olympiasieger werden will, muss auch über Doping reden. Wer dazu keine Haltung hat, macht sich per se verdächtig. Aber natürlich ist das mit der klaren Haltung manchmal bloß die nächste Stufe auf der Betrugsleiter, das große Anti-Doping-Theater, extra eingeübt für uns ach so kritische Sportjournalisten.

Wer sich aus weißrussischen Leichen gewonnenes Wachstumshormon im Internet bestellt und spritzt, wer Fremdurin in Beuteln in Körperöffnungen bunkert, um beim In-den-Becher-Pieseln den Kontrolleur auszutricksen, wer sich mehrere Liter Blut abzapfen lässt, es im Kühlfach aufbewahrt und vor dem Wettkampf zurückpumpt, weil es um ihn herum halt viele machen und der Trainer sagt, sonst könne man gleich aufhören - kann der nicht auch paar Sätzlein darüber auswendig lernen, dass man als Sportler immer nur auf sich selbst schauen kann? Auf sein eigenes, reines Gewissen? Und dass man es einfach nie, nie, nie riskieren würde, behinderte Kinder auf die Welt zu bringen, bloß wegen ein paar Medaillen (das mit den behinderten Kindern zieht besonders gut)? Doping ist fast immer die ganz große Lebenslüge. Wer seine Eltern, seinen Partner, seine Kinder in dieser Frage belügt, der zuckt doch bei einem Reporter nicht mit der Wimper.

Der Sport kann das pure Glück sein

Glauben? Nicht glauben? Der amerikanische Arzt Bob Goldman hat in einer Langzeitstudie über mehrere Jahrzehnte hinweg Spitzensportler gefragt, ob sie das Risiko eingehen würden, innerhalb von fünf Jahren zu sterben, wenn ihnen ein bestimmtes Präparat zuvor einen Olympiasieg garantieren würde. Ruhm oder Leben. Etwa 50 Prozent sagten, ja, das wäre es ihnen wert.

Man weiß inzwischen ziemlich viel über den Spitzensport. Über die alten Männer, die ihn beherrschen, von deren Konten seltsame Zahlungen hierhin und dorthin fließen, und dann ist plötzlich ein Positivtest verschwunden oder man hat den Zuschlag für eine Fußball-WM. Und man weiß viel über die jungen, bisweilen erstaunlich herzkranken Athleten und ihre Fokussierung auf den Erfolg. Der Sport ist nicht besser als andere Geschäftsfelder, er schreibt sich aber als einziges Business "Fairplay" vorne drauf und verdient damit Milliarden. Der Sport kann das pure Glück sein, das authentische Drama, der ungeschminkte Gefühlsausbruch. Der Sport ist Gemeinschaft, Integration, Lebensschule. Er ist aber auch: globaler Krimi, arglistige Täuschung, Gepansche mit Körperflüssigkeiten, Illusionstheater.

Ja, das kann einem die reine Freude am Sportgucken verderben. Die Freude am Sportjournalismus muss es einem nicht unbedingt verderben.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2909678
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 19.03.2016/schm
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.