Es war einmal WM - 1974:"Herrgott i bitt' di, lass gwinna Haiti"

Im Auftrag von Baby Doc: Die Insel-Kicker aus Haiti machen bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1974 Werbung für den Tourismus - und spielen nebenbei auch ein wenig Fußball. Ein gewisser Zweitligaklub aus Giesing wagt sogar das Abenteuer, den Torhüter der Haitianer zu verpflichten.

Es war einmal WM: In einer Serie blicken wir auf komische, merkwürdige, besondere Momente in der Geschichte der Fußball-Weltmeisterschaften zurück. Teil zehn beschäftigt sich mit einem WM-Exoten bei der WM 1974 in Deutschland: Haiti.

Der mit rotem Samt ausgeschlagene Sessel blieb leer. Baby Doc, Diktator und oberster Fußballfan von Haiti, saß nicht auf seinem Stammplatz auf der Tribüne des Silvio-Cator-Stadions von Port-au-Prince, der Hauptstadt des Inselstaats. Er fürchtete sich vor einem Attentat. Der Nachwuchs-Diktator musste vor dem Fernseher in seinem Palast zusehen, wie sich die haitianischen Fußballer für die Weltmeisterschaft 1974 in Deutschland qualifizierten. Seine Freude war trotzdem groß, er rief umgehend einen Nationalfeiertag aus und belohnte die Erfolgreichen. 2000 Dollar soll jeder erhalten haben, circa sieben durchschnittliche Jahresgehälter.

Baby Doc hatte den haitianischen Fußballern den Weg zur WM geebnet, er hatte alle Spieler zu Beamten des Unterrichtsministeriums ernannt und sie freigestellt. Die Behörde hätte zwar richtige Lehrer nötiger gehabt, damals waren rund 80 Prozent der 4,7 Millionen Haitianer Analphabeten. Egal. Fritz Jean Baptiste, Vorsitzender des Fußballverbands, war zugleich Generaldirektor des Tourismus-Ministeriums. Für ihn waren die Kicker auch Werbe-Botschafter.

Limonade aus Bierkrügen

Dietrich Kallhardt, der in Deutschland für Haiti warb, hatte den WM-Auftritt der Mannschaft perfekt durchgeplant. Er ließ die Spieler, die im Gästehaus an der Münchner Sportschule Grünwald wohnten, im Tierpark und im Zirkus auftreten - und natürlich im Hofbräuhaus, wo sie Limonade aus Bierkrügen tranken und kein Wort von dem verstanden, was der Gstanzlsänger Roider Jackl vortrug: "Mei liaba Hergott, i bitt' di/lass gwinna Haiti/dass die Italiener net wieder glaubn/sie tatn im Fuaßball was taugn."

Der Bittsteller schien erhört worden zu sein. Haitis Torhüter Henri Francillon brauchte die Italiener im Spiel der Gruppe vier zur Verzweiflung, in der 46. Minute schoss Emmanuel Sanon Haiti in Führung. Am Ende gewannen dann doch die Italiener 3:1. Nichts war's mit der angeblich von Baby Doc ausgelobten Prämie von 750.000 Mark.

In der Süddeutschen Zeitung gehörte die Schlagzeile einem der Verlierer: "Francillon eroberte die Herzen im Flug." Xaver Salvermoser, der Mundart-Kolumnist, schrieb Prophetisches: "Suacha net d'Sechzger an Torwart? Muaß halt da Merkel Haitianisch lerna. Im Winter wird se da Henri bei uns allerdings hart doa."

Trainer Antoine Tassy fügte noch an, man habe gesehen, dass seine Mannschaft zu Recht bei der WM mitspiele. Später wurde das nicht mehr so deutlich: 0:7 verlor Haiti gegen Polen, 1:4 gegen Argentinien; und Ernst Jean-Joseph wurde ausgeschlossen, er hatte gegen Italien mit einem Aufputschmittel gedopt. Touristik-Manager Kallhardt war trotzdem zufrieden: "Vor der WM verwechselten viele Leute Haiti mit Tahiti", sagte er, "nach dieser WM ist Haiti bei Millionen bekannt".

Zum Abschied hängte man den Haitianern Brezn um den Hals, als sie ins Flugzeug stiegen. Es fehlte nur der zweifache WM-Torschütze Emmanuel Sanon, der vom belgischen Zweitligaklub FC Antwerpen unter Vertrag genommen war. Ein anderer kehrte bald nach München zurück. Der TSV 1860 hatte Xaver Salvermosers Rat beherzigt und Torhüter Francillon verpflichtet.

Es wurde ein anderthalb Jahre währendes Missverständnis. Fünfmal bewachte er in der 2. Liga das Tor, im Februar 1976 verließ er mit seiner Familie seine Sieben-Zimmer-Wohnung und kehrte nach Haiti zurück, mit 20.000 Mark Abfindung im Gepäck. Trainer Max Merkel hatte lieber Bernd Hartmann ins Tor gestellt, weil Merkel selbst, wie er sagte, "kein Haitianisch" sprach. Französisch hätte es allerdings auch getan.

Dieser Text ist dem Buch "Süddeutsche Zeitung - WM-Bibliothek Deutschland 1974" entnommen.

Teil eins der Serie: Schwarzes Wunder - die Geschichte von José Leandro Andrade, dem ersten Glamour-Star des Fußballs und Weltmeister von 1930.

Teil zwei: Deutschland ehrenvoll ausgeschieden - die erste WM-Teilnahme der Deutschen 1934 zwischen Nazipropaganda und Szepans tollem Spiel.

Teil drei: Torhüter mit gebrochenen Knochen - wie schwer es die besten Torhüter ihrer Zeit in den dreißiger Jahren hatten.

Teil vier: No World Cups, please! - die erste WM-Teilnahme Englands im Jahr 1950 gerät zur Blamage.

Teil fünf: 4:1 für Deutschland - ich bin sprachlos. Wie Gefängnis-Insassen der DDR den WM-Titel 1954 im Radio erleben.

Teil sechs: "Trainer, stellen Sie mich bitte nicht mehr auf" - wie der Torhüter Heinrich Kwiatkowski 14 Gegentore in zwei WM-Einsätzen kassiert.

Teil sieben: "Ein Tritt, ein Flug" - die Geschichte des brasilianischen Dribblers Garrincha, der 1962 kaum mit fairen Mitteln zu fassen war.

Teil acht: "Hund Pickels findet WM-Pokal" - über die Suche nach dem verlorenen gegangenen Pott in England 1966.

Teil neun: "Vier Tage Arrest für Bobby Moore" - wie die englische Fußballlegende in eine Diebesgeschichte verwickelt wurde.

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