Es war einmal WM: In einer Serie blicken wir auf komische, merkwürdige, besondere Momente in der Geschichte der Fußball-Weltmeisterschaften zurück. Teil zwölf beschäftigt sich mit einem Schandfleck in der deutschen und österreichischen WM-Geschichte.
Das spanische Eventpublikum ist ein ungeduldiges. Besonders beim Stierkampf, jenem traditionell-tödlichen Aufeinandertreffen zwischen Mensch und Tier, das in spanischen Städten ganze Arenen füllt. Scheut der Matador zu lange die Konfrontation mit dem Bullen, wedeln die Zuschauer mit Taschentüchern, auf dass er seine Feigheit überwinden und sich gefälligst dem gehörnten Ungeheuer stellen möge.
Auch am 25. Juni 1982 schwenkten 41.000 Schlachtenbummler im spanischen WM-Stadion von Gijón wütend ihre Taschentücher. Nur dass auf dem Feld nicht ein bunt-gekleideter Torero mit rotem Tuch den Zorn des Publikums provozierte, sondern 22 Männer in roten bzw. weißen Fußballtrikots. Und dass diese Männer nicht vor einem wildgewordenen Bullen scheuten, sondern vor einem weiß-schwarzen Lederball.
Nach Hrubeschs Führung passiert: nichts
Die Nationalmannschaften von Österreich und Deutschland standen sich gegenüber, und nachdem Horst Hrubesch die Deutschen in der zehnten Minute 1:0 in Führung gebracht hatte, passierte: nichts mehr.
Die Deutschen brauchten dringend einen Sieg gegen Österreich, um in Gruppe zwei an Algerien vorbeizuziehen und das Achtelfinale zu erreichen. Die Österreicher ihrerseits durften sogar verlieren, um vor Algerien zu bleiben - bloß nicht mit mehr als zwei Toren Differenz.
Die einzigartige Chance zur Nachbarschaftshilfe erkennend, schoben sich die beiden Mannschaften nach Hrubeschs Führungstreffer 80 Minuten lang den Ball zu. Danach verließen die Kontrahenten das Feld Arm in Arm und tuschelnd, Algerien war ausgeschieden. Auf der Tribüne wedelten die algerischen Fans mit Geldscheinen, Hunderte versuchten, den Platz zu stürmen. Die Polizei hielt sie mit Gewalt zurück.
Die spanische Zeitung El Comercio veröffentlichte den Bericht zum Spiel nicht im Sportteil, sondern bei den Polizeimeldungen. Ein "mutmaßlicher Betrugsfall" habe sich ereignet, bei dem 40.000 Menschen um jeweils rund 12.000 Peseten geschädigt worden seien. Die gesamte Schadenssumme: 480.000.000 Peseten. Die Zeitung nannte auch die Verdächtigen, allen voran Bundestrainer Jupp Derwall, Lothar Matthäus und Toni Schumacher sowie eine ganze Bande von betrügerischen Österreichern.
Nach dem friedvollen Auftritt auf dem Platz gingen die verängstigten Matadores nach dem Spiel zum Angriff über. "Das ist eine Beleidung", sagte Jupp Derwall, eine Absprache habe es nicht gegeben: "Wir wären dumm gewesen, wenn wir nicht vorsichtig gespielt hätten, und die Österreicher wären auch dumm gewesen, wenn sie nicht vorsichtig gespielt hätten." Was heute vielleicht als moderner Ballbesitzfußball gelten könnte, ging als "Schande von Gijón" in die Fußballgeschichte ein.
"Pfiffe motivieren nicht", suchte Uli Stielike sogar die Schuld beim Publikum. Es sei schließlich das Risiko der Leute, wenn sie hierher fliegen zum Spiel, sagte Wolfgang Demmler. Und "was interessiert mich das, wenn Tante Frieda zu Hause Zirkus macht", sagte Uwe Reinders.
"Eine elende Farce"
Der Imageschaden war damit perfekt, die Süddeutsche Zeitung attestierte den Spielern das Verhalten "schlecht erzogener, unreifer Halberwachsener". Ausländische Medien urteilten noch härter: "Ein schmutziges Stück Fußball-Porno" sah der niederländische Telegraaf, "eine elende Farce" erkannte die italienische Gazzetta dello Sport. Die französische Libération dimensionierte noch größer: "Wenn die Algerier Rassismus rufen, haben sie nicht Unrecht". Nur der Guardian übte sich in britischem Understatement ("ein verdächtig zahmes Spiel").
Die Algerier legten umgehend Einspruch gegen das Ergebnis ein, doch die Fifa lehnte ab: "Wegen Formfehlern" und aus Mangel an Beweisen. Den Algeriern fehlte schlicht die Lobby im Weltverband. Die Regeländerungen, die als Konsequenz aus der Schande von Gijón bei der WM 1986 in Mexiko eingeführt wurden, halfen den Nordafrikanern ebenso wenig wie dem Ruf der Deutschen. Immerhin: Seitdem finden am letzten WM-Gruppenspieltag alle Spiele gleichzeitig statt.
Dieser Text ist dem Buch "Süddeutsche Zeitung - WM-Bibliothek Spanien 1982" entnommen.
Teil eins der Serie: Schwarzes Wunder - die Geschichte von José Leandro Andrade, dem ersten Glamour-Star des Fußballs und Weltmeister von 1930.
Teil zwei: Deutschland ehrenvoll ausgeschieden - die erste WM-Teilnahme der Deutschen 1934 zwischen Nazipropaganda und Szepans tollem Spiel.
Teil drei: Torhüter mit gebrochenen Knochen - wie schwer es die besten Torhüter ihrer Zeit in den dreißiger Jahren hatten.
Teil vier: No World Cups, please! - die erste WM-Teilnahme Englands im Jahr 1950 gerät zur Blamage.
Teil fünf: 4:1 für Deutschland - ich bin sprachlos - wie Gefängnis-Insassen der DDR den WM-Titel 1954 im Radio erleben.
Teil sechs: "Trainer, stellen Sie mich bitte nicht mehr auf" - wie der Torhüter Heinrich Kwiatkowski 14 Gegentore in zwei WM-Einsätzen kassiert.
Teil sieben: "Ein Tritt, ein Flug" - die Geschichte des brasilianischen Dribblers Garrincha, der 1962 kaum mit fairen Mitteln zu fassen war.
Teil acht: "Hund Pickels findet WM-Pokal" - über die Suche nach dem verlorenen gegangenen Pott in England 1966.
Teil neun: "Vier Tage Arrest für Bobby Moore" - wie die englische Fußballlegende in eine Diebesgeschichte verwickelt wurde.
Teil zehn: "Herrgott i bitt' di, lass gwinna Haiti" - wie die Insel-Kicker aus Haiti Werbung für den Tourismus machten.
Teil elf: Allys lustige Army - das Chaos in der schottischen Nationalmannschaft in Argentinien.