Es war einmal WM - 1962:Der gekaufte Freispruch

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Prägender Mann 1962: der Brasilianer Garrincha (rechts).

(Foto: imago sportfotodienst)

Garrincha war die Hoffnung Brasiliens bei der WM 1962 in Chile. Nach Pelés Verletzung führte er die überalterte Mannschaft ins Finale. Für das Endspiel wurde er jedoch gesperrt. Ehe sich Verbandschef João Havelange der Sache annahm.

Von Thomas Kistner

Es war einmal WM: In einer Serie blicken wir auf komische, merkwürdige, besondere Momente in der Geschichte der Fußball-Weltmeisterschaften zurück. Teil sieben beschäftigt sich mit dem Brasilianer Garrincha, der trotz einer roten Karte im Halbfinale auch das Endspiel bestritt.

Garrincha ging selten der Gaul durch, mochten die Verteidiger noch so rüde sein. Der Rechtsaußen war von so sanftem Gemüt, dass ihn die Drohunger seiner WM-Gegenspieler so wenig aus der Fassung brachten, wie die Tritte, die es jedes Mal setzte.

Und die setzte es häufig bei der WM 1962, nachdem Titelverteidiger Brasilien gleich im zweiten Gruppenspiel gegen die Tschechoslowakei seinen Torjäger verloren hatte: Pelè zog sich einen Adduktorenriss zu, die Partie gegen den späteren Finalgegner endete 0:0.

Brasiliens mit einem Altersschnitt von über 30 Jahren ziemlich reife Stammelf schien dem K.o. entgegen zu taumeln. Doch sie hatten Garrincha. Und der schwang sich zu Glanzleistungen auf, die Pelè vergessen machten. Der Solist wechselte von seiner natürlichen Heimat, dem rechten Flügel, in die Spielfeldmitte, bereitete fast jeden WM-Treffer seiner Kameraden vor und schoss selbst Tor um Tor, wobei er Fähigkeiten offenbarte, die er nicht mal im Training hatte erkennen lassen

Dann kam das Halbfinale gegen Chile. Die Gastgeber hatten schon ausgiebig gezeigt, was in ihren Ellbogen und Fußballspitzen steckte, wenn Ball und Schiedsrichter weit genug weg waren. Garrinchas Gegner hieß Eladio Rojas. Rojas konnte zwar eine weitere Glanzleistung Garrinchas nicht verhindern, verpasste ihm aber dafür 50 Tritte und Hiebe - der letzte war einer zu viel.

Garrincha trat zurück, rammte sein Knie in Rojas Gesäß. Schiedsrichter Arturo Yamasaki aus Peru verwies ihn vom Platz, nachdem Linienrichter Esteban Marino auf die Tätlichkeit aufmerksam gemacht und sie ihm detailliert geschildert hatte.

Eine korrekte Maßnahme, die ganz Brasilien ins Unglück zu stürzen drohte. Zwar war der Einzug ins Endspiel dank des 4:2-Sieges geschafft - doch wie sollte man den Titel verteidigen, wenn neben Pelè auch noch der gesperrte Garrincha fehlte? Verbandschef João Havelange nahm sich eilig der nationalen Sache an. Ihm ging es um seine Karriere, die fest an den Fußball geknüpft war und nur mit dem Gewinn des zweiten WM-Titels Bestand haben würde im immer unruhigeren Brasilien vor dem Militärputsch. Havelange griff zu seinen Spezialstrategien.

Auf offiziellem Wege setzte er die Disziplinarkommission des Fußball-Weltverbandes Fifa unter Druck, indem er Brasiliens Präsident João Goulart bekniete, er solle persönlich nach Chile schreiben. Das Staatsoberhaupt plädierte in einem Telegramm vehement für eine höhere Gerechtigkeit, nach der Garrincha im Finale spielen müsse.

Andererseits wusste Havelange, dass sich solche Dinge unter Fußballkameraden viel leichter mit Geld regeln lassen. Da in diesem Fall nur der Linienrichter Marino aus Uruguay Garrinchas Tätlichkeit gesehen hatte, würde nur er Belastungszeuge sein bei der Sitzung der Fifa-Disziplinarkommission. Also gab es eine Lösung: Señor Marino durfte nicht aussagen. Er musste verschwinden. Sofort.

"Mach dir eine schöne Zeit in Europa!"

Der Zufall wollte es, dass Esteban Marino seit Jahren bei der der Schiedsrichtervereinigung von Sao Paulo angestellt war. Verbandshistoriker in Rio de Janeiro geben den Ablauf so wieder, dass am frühen Abend der Chef der brasilianischen WM-Delegation, Paulo Machado de Carvalho, in Begleitung von Armando Marques, Brasiliens populärsten Schiedsrichter, im Hotel erschien. Nicht ganz geklärt ist, ob Havelange selbst der Dritte im Bunde war.

Die Besucher legten Marino ein Flugticket von Santiago de Chile in seine Heimatstadt Montevideo vor - allerdings führte der Kurztrip über Europa, mit ausgedehntem Zwischenstopp in Paris, der Stadt der Liebe. "Mach dir eine schöne Zeit in Europa", lautete ihr Angebot, geknüpft war es nur an eine strikte Bedingung: "Du musst auf der Stelle abreisen. Heute Nacht!"

Tatsächlich verschwand Marino über Nacht aus der WM-Hauptstadt. Als dort anderntags das Fifa-Tribunal zusammentrat und der Zeuge für die Tätlichkeit Garrinchas aufgerufen wurde, Linienrichter Esteban Marino, herrschte Stille im Raum. Niemand konnte mehr aussagen, ob und wie Brasiliens Held Rojas getreten hätte. Marino war auf dem Weg nach Paris, Garrincha auf dem ins Finale und Brasilien unterwegs zum zweiten Titelgewinn.

Wie wichtig der gekaufte Freispruch war, sollte das Endspiel zeigen. Garrincha, den der Nervenkrimi mitgenommen hatte, bestritt es mit 38 Grad Fieber, aber das war nicht das Schlimmste. Als ihn der Journalist Armand Nogueira am frühen Morgen des Finaltages im Quartier antraf, hatte er seine Zigarette im Mund und sah übernächtigt aus.

"Mané, was machst du?", fragte Nogueira bestürzt. "Ich konnte nicht schlafen", sagte Garrincha, "und habe die ganze Nacht geraucht." Nogueira sagt, Garrinchas Finger seien gelb gewesen vom Tababk.

Als Stunden später das Endspiel angepfiffen wurde, blickte kein Mensch dorthin. Rudolf Vytlacil, Trainer der Tschechoslowakei, hatte zwei Abwehrspieler auf die linke Seite beordert, ein Dritter sicherte den Raum zur Mitte, um Garrincha daran zu hindern, die Regie an sich zu reißen - doch in den Lücken, die dadurch entstanden, glänzte Teamkollege Amarildo.

Die Selecao gewann 3:1, weil der Gegner einen Mann bekämpft hatte, der auf dem Platz nur ein Schatten seiner selbst war. Ein Schatten, stärker als die reale Wahrnehmung.

Aus der SZ-Bibliothek

Teil eins der Serie: Schwarzes Wunder - die Geschichte von José Leandro Andrade, dem ersten Glamour-Star des Fußballs und Weltmeister von 1930.

Teil zwei: Deutschland ehrenvoll ausgeschieden - die erste WM-Teilnahme der Deutschen 1934 zwischen Nazipropaganda und Szepans tollem Spiel.

Teil drei: Torhüter mit gebrochenen Knochen - wie schwer es die besten Torhüter ihrer Zeit in den dreißiger Jahren hatten.

Teil vier: No World Cups, please! - die erste WM-Teilnahme Englands im Jahr 1950 gerät zur Blamage.

Teil fünf: 4:1 für Deutschland - ich bin sprachlos. Wie Gefängnis-Insassen der DDR den WM-Titel 1954 im Radio erleben.

Teil sechs: Trainer, bitte stellen Sie mich nicht mehr auf! - die Geschichte des statistisch wohl schlechtesten Torwarts der WM-Historie.

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