Es war einmal WM - 1930:Schwarzes Wunder

Fußball WM Uruguay 1930 First Cup Winners

Uruguay gewinnt alle wichtigen Titel von 1923 bis 1930. Der beste Spieler war der einzige Schwarze: José Leandro Andrade.

(Foto: Getty Images)

José Leandro Andrade ist der erste Glamour-Star des Fußballs. Bevor er Uruguay 1930 zum WM-Titel führt, hat er bereits Europa für sich eingenommen. Als einziger Schwarzer im Team ist er eine exotische Attraktion. Er endet im Armenhaus.

Von Thomas Hummel

Es war einmal WM: In einer Serie blicken wir auf komische, merkwürdige, besondere Momente in der Geschichte der Fußball-Weltmeisterschaften zurück. Teil 1 beschäftigt sich mit José Leandro Andrade, der Uruguay 1930 zum ersten Titel führte.

Das Leben von José Leandro Andrade endete, wie es begonnen hatte: in bitterer Armut. Dazwischen aber lag die erste schillernde Karriere des Fußballs, die sich nicht nur auf dem Rasen, sondern auch unter den Reichen und Schönen abspielte. Voll mit Musik, Sex und Glamour der zwanziger Jahre. Heute würde man José Leandro Andrade einen Popstar des Sports nennen, Kategorie David Beckham. Doch damals gab es diese Kategorie noch nicht.

Andrades Leben änderte sich, als er 23-jährig mit Uruguays Nationalelf bei den Olympischen Spielen 1924 in Paris das erste Spiel bestritt. Bis dahin hatten die meisten Europäer noch nie einen Schwarzen gesehen, geschweige denn Fußball spielend. Andrade war der einzige Schwarze im Turnier, das allein erregte Aufmerksamkeit. Aus Aufmerksamkeit wurde Bewunderung. Nach dem 7:0 gegen Jugoslawien verneigten sich die Europäer vor dem Können der Südamerikaner, die einen völlig neuen Fußball zelebrierten.

Mit spontanen Ideen, lockerer Taktik, mit Finten und Tricks kontrastierten sie das schablonenhafte, rustikale Kick and Rush der Europäer. Und der Anführer dieser Künstlergruppe hieß Andrade.

Ein deutscher Fußball-Korrespondent schrieb damals: "Bei den Läufern vertrat ein waschechter Neger namens Andrade die exotische Note mit seiner Couleur. Aber der Mann kann mehr. Ein zielbewussteres, taktisch vollendeteres Spiel lässt sich kaum denken. Sein fabelhaftes Können rief spontan Beifall hervor. Der lange Andrade fällt durch sein bevorzugtes Kopfballspiel auf. Die Neger scheinen Schädel wie Kokosnüsse zu haben." Uruguay wurde Olympiasieger - Andrade war ein Star.

Doch neben den sportbegeisterten Männern schwärmten auch - und das war neu - die Frauen von dem großen, starken Andrade. Da pflügte einer nicht über den Platz, seine Bewegungen wirkten vielmehr geschmeidig, katzenhaft. Laut Chronisten führte er Kunststücke wie Scherenschlag und Fallrückzieher in Europa ein.

Andrades Spiel ähnelte einem Tanz. Und tanzen konnte er. 1901 im armen Nordosten Uruguays geboren, war er als Jugendlicher zu einer Tante in die Hauptstadt Montevideo gezogen und verdiente sich ein paar Pesos als Straßenmusikant. Er führte eine Tanzgruppe namens "Die armen kubanischen Neger", galt als Meister des "Candobes", einer Spielart des Tangos, und war selten ohne seine Trommel zu sehen.

Seine zweite Leidenschaft, der Fußball, verhalf ihm bald zu nationaler Berühmtheit. 1923 trug er entscheidend zum Gewinn der Südamerika-Meisterschaft bei. In Uruguay hieß er "La maravilla negra" - Das schwarze Wunder. Aus der Armut befreite ihn das nur bedingt, die Prämien waren kaum mehr als ein Zubrot.

Dann kam Paris. Die Menschen rissen sich um ihn, wegen seines Spiels, seiner Exotik. Er kam in Kontakt mit dem genusssüchtigen Leben der Bohémiens, die sich in Bars und Tanzlokalen vergnügten. Die spaßlüsterne Schickeria lockte ihn in ihren Kreis als Attraktion aus einer anderen Welt, als aufsehenerregende Zirkusnummer. Er tanzte auf den Bühnen, das Publikum feierte ihn, die Frauen warben um seine Zuneigung.

Andrade in einer Pariser Villa

Er verschwand aus dem Mannschaftsquartier, nur Mitspieler Angél Romano hinterließ er eine Adresse. Der Verband wies Romano an, Andrade zu holen, doch am Ziel angekommen, glaubte Romano an einen Irrtum. Der schwarze Andrade aus der untersten Schicht Uruguays in einer Pariser Villa? Er fragte dennoch ein Zimmermädchen. "Oh, oui, oui, Monsieur Andrade", antwortete sie. Da kam Andrade, bekleidet mit einem Kimono aus Seide, hinter ihm einige Mädchen in Dessous.

Andrade gefielen die Schmeicheleien neuer, reicher Freunde, die Ovationen des Publikums und die Ergebenheit der Frauen. Der einst wegen seiner Hautfarbe benachteiligte "Neger" kehrte als Triumphator nach Montevideo zurück. Im Herrenrock, mit Lackschuhen, Zylinderhut und weißen Handschuhen stieg er vom Schiff. Er führte das begonnene Leben weiter, wurde ein Mann der Nacht und sprach, so heißt es, von nun an mit einer Spur Hochmut in der Stimme.

Nach dem Auftritt bei Olympia wurde sein Verein Nacional Montevideo 1925 und 1927 zu Gastspielen nach Europa eingeladen, so kam Andrade wieder nach Paris. Dort traf er in den Varietés nun eine schwarze Tänzerin, die von den Franzosen ebenso als exotische Sensation gefeiert wurde: Josephine Baker. 1925 begründete sie mit der Revue Nègre ihren Ruhm und manche meinen, Andrades Auftritt ein Jahr zuvor hätte ihr den Weg dafür geebnet.

Obwohl Andrade dem süßen Leben frönte, konnte er sein außergewöhnliches Niveau auf dem Platz zunächst halten. Bei den Olympischen Spielen 1928 in Amsterdam holte er mit Uruguay wieder Gold. Ein niederländischer Journalist schrieb: "Andrade war ein so großer Spieler und seine Kollegen solche Könner, dass es einem leid tat, das Stadion zu verlassen." Doch hier begann auch sein Abstieg: Im Halbfinale gegen Italien knallte er bei einem Rettungsversuch gegen den Pfosten und verletzte sich am Auge. Dieses Handicap wurde er nie wieder los.

Die Weltmeisterschaft 1930 sollte sein letzter internationaler Auftritt sein. Er versprühte zwar nicht mehr die Brillanz der ersten Jahre, doch es reichte immer noch, um seine Mannschaft zum Titel zu führen und von den meisten Berichterstattern zum besten Spieler des Turniers gewählt zu werden. Er war 28 Jahre alt, das Finale war sein letztes Länderspiel.

Das spätere Leben des José Leandro Andrade verläuft sich im Ungewissen. Es heißt, Montevideos Stadtverwaltung habe ihn zeitweise angestellt, zwei Ehen seien gescheitert. Im Herbst 1956 machte sich der deutsche Journalist Fritz Hack auf die Suche nach dem "Schwarzen Wunder". Die Suche dauerte sechs Tage.

"In einer spartanisch eingerichteten Behausung fand ich Andrade, der total dem Alkohol verfallen und durch seine Augenverletzung inzwischen einseitig erblindet war. Meinen Fragen konnte er nicht folgen, die Antworten gab eine bildhübsche Frau, die Schwester eines damaligen Olympiasiegers", schrieb Hack. Ein Jahr später wurde der 56-jährige Andrade tot aufgefunden. Seine Medaillen lagen in einem Schuhkarton.

Dieser Text steht in der Süddeutsche Zeitung WM-Bibliothek 1930-1950

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