Erstes Golden Goal der EM-Geschichte:Wie Bierhoff den 30. Juni 1996 vergoldete

Fußball-EM '96: Deutschland wird Europameister

Oliver Bierhoff zieht ab und erzielt das erste Golden Goal der EM-Geschichte.

(Foto: dpa)
  • Der Stürmer entscheidet das EM-Finale 1996 gegen Tschechien nach seiner Einwechslung, dabei hätte er das Turnier beinahe verpasst.
  • Am 30. Juni jährt sich das erste Golden Goal der EM-Geschichte zum 20. Mal, noch heute erzählt Bierhoff bei jeder Gelegenheit davon.

Von Jan Geißler

Monika Vogts war zuvor nicht unbedingt mit großem Fußballsachverstand aufgefallen, doch dann fasste sie einen der wichtigsten Entschlüsse der deutschen Fußballgeschichte. Es war 1996, und ihr damaliger Ehemann, Bundestrainer Berti Vogts, war sich unsicher, ob er diesen Oliver Bierhoff überhaupt nominieren sollte für die Europameisterschaft in England. "Nimm den Oliver mit, er wird es dir danken", soll Monika damals zu Berti gesagt haben, so hat er es später erzählt, als Deutschland das Finale gegen Tschechien mit 2:1 gewonnen hatte - durch das Golden Goal von Oliver Bierhoff, an diesem Donnerstag vor genau 20 Jahren.

Bierhoffs Tor (ab 1:30) war nicht das schönste aller deutschen Finaltore, es erinnerte in seiner Ausführung ein wenig an Gerd Müller 1974 gegen Holland; es war auch nicht so wichtig wie das von Helmut Rahn 1954 in Bern. Doch nach keinem Tor war der Jubel größer als am 30. Juni 1996 im Londoner Wembleystadion in der fünften Minute der Verlängerung. Der Treffer, der erste seiner Art nach Einführung der im Jahr 2005 wieder abgeschafften Golden-Goal-Regel, überrumpelte die 73 600 Zuschauer im Stadion geradezu. Denn der Moment, in dem der Ball die Linie überquerte, war gleichzeitig der Moment, in dem Deutschland Europameister war - sofort, in diesem Augenblick.

Und dafür verantwortlich war ausgerechnet der zuvor so viel gescholtene Bierhoff, der sich wie von Sinnen seines Trikots entledigte und in Ekstase zu den deutschen Fans lief. Er brauchte, erzählte er später, selbst etwas länger, um zu verstehen, was gerade passiert war. "Mein Gott, er ist drin", sei sein erster Gedanke gewesen, bevor er einige Sekunden später realisierte: "Und das ist jetzt auch noch das Golden Goal." Das erste bei einer EM überhaupt, und eines von nur 35 in der Geschichte des Fußballs.

Durchgehend auf der Auswechselbank

Bierhoff, damals 28 Jahre alt, hatte erst im Februar 1996 sein erstes Länderspiel bestritten, und obwohl er für Udinese Calcio in der italienischen Serie A 17 Tore geschossen und seine bis dahin erfolgreichste Saison absolviert hatte, war sein Platz im deutschen Sturm umstritten; er spielte nicht gerade filigran, und bis zum Finale spielte er eigentlich überhaupt nicht. Abgesehen von einem Kurzeinsatz im Auftaktmatch gegen Tschechien (2:0) und immerhin 83 Minuten gegen Russland fand sich der Stürmer durchgehend auf der Auswechselbank wieder. Vogts bevorzugte andere Stürmertypen. Neben Jürgen Klinsmann spielten meist Fredi Bobic und Stefan Kuntz. Bierhoff war Zuschauer. Bis zur 69. Minute im Finale.

Durch einen Elfmetertreffer von Patrik Berger lag Deutschland 0:1 zurück, tat sich enorm schwer. Dann wechselte Vogts Mehmet Scholl aus, brachte Bierhoff. Drei Minuten später stand es 1:1. Christian Ziege hatte einen Freistoß in den Strafraum geflankt, Tschechiens Torhüter Petr Kouba verharrte auf der Linie, Kopfball-Spezialist Bierhoff wuchtete seine 191 Zentimeter in die Flanke und nickte den Ball ins Tor.

Es geschah wenig bis zur Verlängerung, bis zur 95. Minute. Müsste man einen deutschen Spielzug der Neunzigerjahre malen, er sähe genau so aus: Thomas Helmer schlug den Ball aus der eigenen Hälfte in hohem Bogen nach vorne, Bierhoff verlängerte ungelenk aber effektiv nach außen, Jürgen Klinsmann flankte, Bierhoff stoppte den Ball mit dem Rücken zum Tor, eng bewacht vom tschechischen Verteidiger Miroslav Kadlec. Die Zeit schien für einen Moment still zu stehen.

Links rum? Rechts rum? Rechts rum!

Eigentlich habe er sich links herum drehen wollen, den Ball "auf meinen starken rechten Fuß" legen, erzählte Bierhoff. Der Bremer Marco Bode stand im Strafraum näher zum Tor, auf den Fernsehbildern ist zu sehen, wie er Bierhoff gestikulierend anschreit. Er rief: "Rechts rumdrehen!" Bierhoff gehorchte, schoss, und Kouba, die tragische Figur dieses Spiels, ließ den eigentlich ungefährlichen Schuss durch seine Hände rutschen. "Der Held ist Bierhoff. Der Deutsche aus Italien zertrümmert die Träume der Tschechischen Republik", schrieb die italienische Zeitung Tuttosport am nächsten Morgen.

Jener deutsche Italiener, er war nicht mehr der umstrittene Stürmer vom Vortag. 1998 wurde er Torschützenkönig in Italien, wechselte zum AC Mailand, unterschrieb große Werbeverträge, sollte die Nationalmannschaft bei der EM 2000 als Kapitän anführen, hätte er sich nicht verletzt.

Bundestrainer Löw scherzt

Ob er heute Manager der Nationalmannschaft wäre, hätte Kouba seinen Schuss festgehalten? Das Tor erzielt zu haben "ist eine Ehre, auf die ich stolz bin", sagt Bierhoff, es habe sein Leben verändert. Glaubt man Joachim Löw, dann erinnert Bierhoff sich vielleicht gar ein wenig zu oft an seinen berühmtesten Treffer.

Der Bundestrainer sagte neulich mit einem breiten Grinsen, er werde dem Manager am Donnerstag lieber aus dem Weg gehen. Löw sagte: "Oliver Bierhoff erzählt bei jeder Gelegenheit vom Golden Goal - ich bin froh, wenn ich es nicht zu oft höre."

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