Süddeutsche Zeitung

Erster Olympiastart für Oscar Pistorius:Hauptdarsteller auf Karbonfedern

Einen wie ihn hat es bei Olympia noch nicht gegeben: Souverän qualifiziert sich Oscar Pistorius über 400 Meter für das Halbfinale - anschließend muss der Prothesenläufer einen gigantischen Interview-Marathon bewältigen. Pistorius spricht von einer "Wahnsinnserfahrung". Doch die Diskussion über seine Startberechtigung hält an.

Thomas Hahn, London

Luguelin Santos aus der Dominikanischen Republik hatte seinen 400-Meter-Vorlauf im Londoner Olympiastadion gewonnen. Aber ihm war klar, dass das im Grunde niemanden interessierte, weil hinter ihm der Mann des Tages bei den olympischen Leichtathletik-Wettbewerben ins Ziel gekommen war: Prothesenläufer Oscar Pistorius aus Südafrika, der erste Mann ohne Unterschenkel, der bei Olympia in einer Laufdisziplin startet. 45,44 Sekunden brauchte Oscar Pistorius für die Stadionrunde, womit er sich locker für das Halbfinale des 400-Meter-Turniers an diesem Sonntagabend qualifizierte.

Luguelin Santos war vier Zehntelsekunden schneller, trotzdem sollte er was über Pistorius sagen. Er lobte ihn als "großartigen Wettläufer" und fand es überhaupt nicht schlimm, dass der amputierte Kollege die meiste Aufmerksamkeit bekam: "Ich weiß, dass er der Hauptdarsteller dieses Rennens ist."

Oscar Pistorius ist in der Tat der großer Hingucker gewesen am Samstag im Olympiastadion. Davon konnte auch die Tatsache nicht ablenken, dass die Meldung des Tages der amerikanische Olympiasieger LaShawn Merritt produzierte, der schon beim Aufwärmen eine Muskelverletzung im linken Oberschenkel gespürt hatte, trotzdem antrat und seinen Vorlauf dann nicht zu Ende brachte. Wenn einer Geschichte schreibt, ist das eben mehr wert als nur ein paar flüchtige Blicke, und Geschichte hat Pistorius an diesem bewölkten Sommertag in London tatsächlich geschrieben.

Einen wie ihn, der vor 25 Jahren in Pretoria ohne Wadenbeinknochen geboren wurde und deshalb als Kleinkind beide Unterschenkel amputiert bekam, hat es schließlich noch nie gegeben bei Olympia. Ungefähr jede Fernsehstation der Welt wollte Pistorius nach seinem Olympia-Debüt sprechen, in der Interviewzone drängelte sich die Weltpresse um ihn. Selbst der 19-jährige Weltmeister Kirani James aus Grenada sollte weniger über seinen eigenen Lauf reden, bei dem er sich mit 45,23 Sekunden sicher fürs Finale qualifizierte, sondern über den von Pistorius.

James erledigte die Aufgabe mit routiniertem Wohlwollen. "Das ist jemand, vor dem ich viel Respekt habe, weil es viel Mut und Selbstvertrauen braucht, um das zu tun, was er tut."

Die Diskussion darüber, ob Pistorius mit seinen Karbon-Federn, die bei Sport seine Füße ersetzen, überhaupt eine vergleichbare Leistung bringt im Wettstreit mit Leuten, die auf natürlichen Füßen laufen, gibt es weiterhin. Vor allem die Medaillenanwärter wollen sich nur nicht mehr so gerne damit befassen. Kirani James sagte, er betrachte Pistorius gar nicht unter diesem Aspekt. "Ich sehe ihn als Athleten, als Mittbewerber und vor allem als Mensch."

Pistorius selbst war bestens vorbereitet auf seinen kleinen Medien-Marathon, den er nach dem Lauf zu absolvieren hatte. Er hatte das schließlich schon im vergangenen Jahr bei der Leichtathletik-WM der Nichtbehinderten in Daegu mitgemacht, bei der er ebenfalls das Halbinale erreichte und einen ziemlichen Journalisten-Auflauf verursachte.

Er dankte den Medienschaffenden für ihr geduldiges Warten und hielt eine kleine Ansprache, in der er von der Atmosphäre im Stadion mit den 80.000 begeisterten Zuschauern schwärmte und von der "Wahnsinnserfahrung", dabei sein zu dürfen unter den Ringen. "Ich habe in den Startblocks gelächelt. Das ist selten vor einem 400-Meter-Lauf", sagte er. Mit seiner Leistung war er auch zufrieden: "Ich hatte eine wirklich gute Renntaktik heute."

Die 45,44 Sekunden waren seine zweitbeste Zeit in diesem Jahr und nicht weit weg von seiner Bestzeit von 45,07 (aufgestellt 2011). Die Zeit war vor allem deshalb bemerkenswert, weil er auf der Zielgeraden das Tempo deutlich gedrosselt hatte. Oscar Pistorius hätte offensichtlich sehr viel schneller laufen können. Es scheint nicht ausgeschlossen zu sein, dass er sich am Sonntag für das Finale am Montag qualifiziert.

Nachdem Oscar Pistorius endlich alle Fragesteller bedient hatte, widmete er sich jedenfalls bald wieder seiner sportlichen Aufgabe bei den Spielen, der Vorbereitung auf seinen Sonntagsdienst im Stadion. "Ich habe morgen einen Job zu tun", sagte er, "ich freue mich drauf."

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